Kaiserslautern Ernstfall

Die 38. Ausgabe des weltberühmten Wettlesens um den Ingeborg-Bachmann-Preis startet heute Abend in Klagenfurt. Ab morgen früh werden stundenlang Texte vorgetragen. In einem Fernsehstudio, wahrscheinlich weiße Fäden, leere Fensterrahmen oder graue Pappkartons als Wand-Dekoration. Es setzt dann kluge, doofe, treffendste, danebendste Kritik von der siebenköpfigen Jury, die schön ausgewogen mit Deutschen, Schweizern und Österreichern besetzt ist. Am Sonntag ist Schluss. Vorschau auf eine Veranstaltung, die aufs Schönste überholt ist.

Wie wirkmächtig der auf 3Sat live übertragene Wettbewerb ist, zeigt schon, dass mich in Ludwigshafen am Rhein einmal die Verkäuferin einer Parfümerie um ein Autogramm bat. „Ich kenn Sie doch“, sagte sie. „Ich hab Sie im Fernsehen gesehen.“ Und das stimmte. Sie war offenbar in die Übertragung der Preisverleihung geraten, sonntagmorgens. Und dort saß ich. Als Nachbar des Preisträgers war ich voll im Bild. Fraglich, ob das dieses Mal wieder gelingt. Das Gedrängel ist heftig im Studio. Schulklassen sitzen im Publikum, drei alte Damen aus Graz ganz vorn. In der ersten Reihe Journalist Harald Loch, der den Nacht-Pförtner vom ORF weckt, um eingelassen zu werden. Im Internet stehen die Texte online. Wer einen leisen Hang zum Masochismus hat, schaut Fernsehen. Was man dort aber nicht sieht, ist das Eigentliche. Wie am Wörthersee am späten Nachmittag Autoren in Badehosen stehen, Verleger umringt sind von Groupies. Am Lendhafen die coolen Durchblicker im Erlebten herumrühren wie in heißer Frittatensuppe. Beim Wettschwimmen im Seebad die Lektorin von Klett-Cotta allen davoneilt. Und am Ende so etwas vorliegt wie ein abgeschlossener Literaturbetriebsroman. Das Klagenfurter Ritual ragt aus einer analogen Vorzeit in die Google-Welt. Ein Ereignis, das Literatur ernst nimmt und so tut, als sei Fernsehen noch wichtig. Bei unterirdischen Einschaltquoten natürlich. Die Übertragung ist ein starkes Argument für Gebühren. Wer sonst nichts über den Bachmann-Wettbewerb weiß, der kennt doch das Bild, wie sich Rainald Goetz bei seinem Auftritt 1983 mit einer Rasierklinge in die Stirn ritzt und ungerührt weiterliest. Vielleicht noch, wie Sten Nadolny 1990 sein Preisgeld unter allen Teilnehmern verteilt und damit die harte Konkurrenz unterläuft, die sonst mühsam verleugnet wird. Immer wieder war das Wettlesen bedroht. 2000 fiel Klagenfurt aus Protest gegen die in Wien regierende Koalition mit Haiders FPÖ fast aus. Vergangenes Jahr hieß es, das seien die letzten Tage der deutschsprachigen Literatur, wie die Veranstaltung offiziell heißt. Immer wieder wird das Fernbleiben von Prominenz beklagt. Dabei zeugt es doch nur vom Schwindel, den das Scheitern vor einem Kernpublikum der Literatur erzeugt. Und außerdem handelt es sich doch eigentlich um einen Nachwuchswettbewerb. In einem Juli in Kärnten nahm so manche Karriere erst richtig Fahrt auf. Die Siegerlisten sind ansehnlich. Die Verlage verbuchen die Kosten für die Anreise ihrer Pressedamen unter Marketingausgaben. Ulrich Plenzdorf hat gewonnen, Wolfgang Hilbig, Georg Klein, Michael Lentz. Terézia Mora wurde später auch Gewinnerin des Deutschen Buchpreises. „Vielleicht Esther“, der Roman der Vorjahressiegerin Katja Petroskaja, aus dem sie in Klagenfurt einen Auszug gelesen hatte, stand im Frühling auf Platz eins der SWR-Bestenliste, die als die verlässlichste Lesevorschlagsliste gelten kann. Dieses Mal kennt man so gut wie niemanden unter den Autorinnen und Autoren, sechs aus Deutschland, fünf aus Österreich, zwei aus der Schweiz. Das Preisgeld beträgt insgesamt 54.500 Euro. Olga Flor aus Graz ist bei ihrer zweiten Teilnahme eine Bewerberin um den Bachmannpreis und vier Nebenauszeichnungen, von der man zumindest schon mal was gehört hat. Tex Rubinowitz ist schon eine Größe, allerdings als Autor sehr lustiger Cartoons. Nach einer Phase, in der die Aspiranten möglichst skurrile Lebensläufe vorweisen konnten, ist jetzt wieder die Zeit der Literaturdoktorinnen, Gymnasiallehrer. Der 1984 in Sri Lanka geborene Berliner Senthuran Varatharajah promoviert in Philosophie und hat bisher ganz genau keine einzige literarische Veröffentlichung vorzuweisen. Nur bei Karen Köhler aus Hamburg heißt es noch eher kryptisch: „Sie wollte Kosmonautin werden, hat Fallschirmspringen gelernt und in Bern Schauspiel studiert.“ Vorgeschlagen wurde sie von Hubert Winkels. In der Jury, die im Gegensatz zu allen anderen die Texte 14 Tage vorher kennt, fungiert er als Großmeister der subtilsten Interpretationen. Neu in ihr sitzt der Wiener Germanistikprofessor Arno Dusini, der vor allem über Franz Grillparzer veröffentlicht hat. Wie er sich schlägt, dazu später. Die RHEINPFALZ wird wie immer versuchen, im Bild zu sein.

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