75 JAHRE Lokalausgabe: Die Kammgarn in Kaiserslautern: Einst Wollfabrik, seit mehr als 30 Jahren Kulturzentrum

Der 62 Meter hohe Fabrikschornstein der Kammgarn ist längst ein prägendes Element der Lauterer Silhouette geworden.
Der 62 Meter hohe Fabrikschornstein der Kammgarn ist längst ein prägendes Element der Lauterer Silhouette geworden.

Die Stadtpolitik kreist um die Wirtschaft, die mit Wissenschaft und Forschung einhergeht. Vor Ort wirkte es wie ein Mahnruf, als sich der Kultursommer Rheinpfalz-Pfalz vor drei Jahren das Motto „Industriekultur“ gab. Denn in Kaiserslautern verbindet die Kammgarn ein erfolgreiches Kapitel der Wirtschaftsgeschichte mit der Anziehungskraft eines musisch-kreativen Standortfaktors.

Ihren Stellenwert als Schauplatz des Wirtschaftslebens hat die Kammgarn vor vier Jahrzehnten verloren, als die Spinnerei in Konkurs ging. Seit 1988 befindet sich hier das gleichnamige Kulturzentrum, das die Stadt heute in sonderbarem Deutsch-Englisch als „Top-Venue in Deutschland“ und „international angesehenes First-Call-Konzerthaus für Rock, Jazz, Blues und Pop“ anpreist.

Das weithin geschätzte Kultur- war also einmal ein Wirtschaftszentrum, das in Spitzenzeiten annähernd 3000 Menschen Beschäftigung bot. Die Erfolgsgeschichte beginnt im Spätsommer 1857, als der Lauterer Regierungsrat Franz Meuth und der aus dem Elsass stammende Ingenieur Jean Schoen die Gründung einer Aktiengesellschaft besiegeln. Am westlichen Stadtrand errichten sie Werkshallen zur Herstellung einer besonders feinen Wolle, des sogenannten Kammgarns. Auf dem 12.000 Quadratmeter großen Terrain einer alten Ölmühle am Lauterufer werden eine Wollwäscherei, Dämpferei, Krempelmaschine, Kämmerei, Vorspinnerei, Handspinn- und Zwirnmaschinen aus dem Boden gestampft. Der Antrieb erfolgt über Dampfmaschinen in eigenen Kesselhäusern.

Rasch wachsende Belegschaft

Die Industrielle Revolution lässt die Geschäfte der Kammgarn-Spinnerei AG Kaiserslautern (KGSK) florieren. Die zunächst 50-köpfige Belegschaft wächst so rasch, dass im Zug eines frühen sozialen Wohnungsbaus die „Kammgarnhäuser“ entstehen. 1872 werden 16.000 Zentner Schafwolle verarbeitet – aus Deutschland, Ungarn, Italien und dem fernen Australien. Die Lieferungen gehen bis nach Russland und Böhmen, ab 1883 erfolgt der Transport per Eisenbahn.

Die beiden Weltkriege bescheren den Bilanzen kräftige Dämpfer, das männliche Personal muss ins Feld ziehen, die Produktion wird umgestellt auf Sandsäcke und Tragegurte für Granaten. Ab den 1920er Jahren setzen neue Boom-Zeiten ein, nach einem Großbrand anno 1936 erfolgt eine umfassende Modernisierung und Erweiterung. Ein Bombenabgriff zerstört 90 Prozent des Werks, doch schon zwei Jahre nach Kriegsende ist ein Viertel der einstigen Kapazität erreicht.

Der neue Aufwärtstrend währt bis zu einem globalen Preiseinbruch 1974/75. Jetzt wird die Wolle in Übersee weitaus billiger produziert und verkauft. Am 25. August 1981 meldet die RHEINPFALZ: „Kammgarn-Konkurs eröffnet.“ Im Jahr darauf endet die Produktionstätigkeit, die Maschinen werden nach China verkauft, 600 Beschäftigte verlieren ihre Arbeit. Um die Ansprüche aus dem Sozialplan wird noch jahrelang vor Gericht gestritten.

US-Streitkräfte übernehmen

Damit wäre die Geschichte des Wirtschaftsunternehmens namens Kammgarn eigentlich zu Ende gewesen. Doch es ging weiter mit „der Kammgarn“. Zunächst übernahmen die US-Streitkräfte einige Hallen. Teile des Geländes wurden vom Land Rheinland-Pfalz aufgekauft, das zwei Produktionshallen zum Campus der Fachhochschule in der Morlauterer Straße umbaut. Heute sind hier 2700 Studierende der Fachbereiche Ingenieurwissenschaften sowie Bauen und Gestalten eingeschrieben. Seit der ersten rheinland-pfälzischen Landesgartenschau anno 2000 umschließt eine große Parkanlage das Terrain.

Das ehemalige Kammgarn-Kraftwerk mit altem und neuem Kesselhaus, die Turbinenhalle und die Werkstätten waren von Anfang an für „die Errichtung eines Kulturzentrums vorgesehen“, wie es in den Stadtratsunterlagen heißt. Die Eröffnung der neuen Spielstätte fand am letzten Mai-Wochenende 1988 statt, als gerade der fünfte Rheinland-Pfalz-Tag von Kaiserslautern ausgerichtet wurde.

Das Premierenprogramm war gespickt „mit Stars und Sternchen, nahezu rund um die Uhr“, wie die RHEINPFALZ ankündigte. „Mit dabei sind AI di Meola, Anne Haigis, Manos Flamencas, Peter Nüesch, Jule Neigel, Danse Macabre und und und. Beim Frühschoppen mit der Thilo-Berg-Bigband geht’s weiter. Außerdem haben The Men of Jazz ihr Kommen zugesagt, anschließend gastieren die New York Swing All Stars.“

Schon im folgenden Jahr lud die Kammgarn erstmals zum Internationalen Jazz-Festival ein und zeigte eine Fotoausstellung der Architektenkammer. Dazu kamen später das Blues- und ein Comedy-Festival, die „Nuit de la Chanson“ und die Reihe „Sound of the World“ – alles lieb gewonnene, im Kulturprogramm der Stadt fest etablierte und weit über die Pfalz hinaus beliebte Spezialitäten.

Chef des Ganzen war damals und ist noch immer Richard Müller, inzwischen 70 Jahre alt und laut Vertragsverlängerung noch bis 2025 im Amt. Auch Lauterns Blues-Urgestein Stephan Flesch garantiert seit dem Anfangsjahren ein ausverkauftes Haus. Dessen Erfolgsgeheimnis ist eine publikumswirksame und zugleich erlesene Mischung von großen Stars und Namen aus der Region, die zugleich dem Bühnennachwuchs ein Forum bietet.

Über 7000 Veranstaltungen in fast 35 Jahren

Weit über 7000 Veranstaltungen und an die 70 Festivals haben in den vergangenen 34 Jahren gut drei Millionen Gäste in die Kammgarn gelockt. Jede und jeder von ihnen hat eigene Erinnerungen an Programmhöhepunkte. Der Reigen spannt sich von Manfred Mann und Miriam Makeba über Dieter Hildebrandt, Georg Ringsgwandl und Badesalz bis zu Eric Burdon und Jan Gabarek, Lisa Fitz und Konstantin Wecker.

Formate wie das „Kammgarn-Wohnzimmer“ setzen neue Akzente, die sanierte Schreinerei bietet einen zusätzlichen Veranstaltungsraum neben Kasino und Cotton Club. Weil Kultur trotz allen Erfolgs ein Zuschussgeschäft bleibt und zeitweilig sogar ein „Kammgarn-Soli“ erhoben werden musste, hat die Kommune ihre Kammgarn-GmbH zwischenzeitlich zum Tochterunternehmen der Stadtwerke umgemodelt. Die durch Corona ausgelöste Ausgehmüdigkeit ist zwar noch nicht vollends überwunden, aber die Bauarbeiten für neue Gebäude des Campus laufen weiter.

Wer in Kaiserslautern Kammgarn sagt, meint also eher das denkmalgeschützte Kulturzentrum denn die frühere Wollfabrik. An die einstige Tradition erinnern das Schaf im Logo des Musen-Mekkas sowie eine Metallskulptur, der ihr Schöpfer Robert Currie den Titel „Die Spindel“ gegeben hat. Der 62 Meter hohe Fabrikschornstein ist ohnehin längst ein prägendes Element der Lauterer Silhouette.

75 Jahre Kaiserslauterer Lokalausgabe

1947 erschien erstmals eine Kaiserslauterer Lokalausgabe der RHEINPFALZ. Zum Jubiläum wollen wir mit dieser Serie in loser Folge einen Blick auf Themen werfen, die die RHEINPFALZ-Leserinnen und -Leser aus Stadt und Kreis Kaiserslautern in den vergangenen 75 Jahren beschäftigt haben wie die Eingemeindungen 1969, wodurch Kaiserslautern Großstadt wurde, die Gründung der Uni, die Gartenschau oder die Fußball-Weltmeisterschaft 2006. rhp

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