Kaiserslautern Die Handschrift der Gegenwart

Vor kurzem herrschte kulturpessimistischer Aufruhr. Allerdings nur kurz. Finnland wolle die Schreibschrift an der Schule abschaffen, hieß es, zugunsten des Tippens auf Tastaturen. Ausgerechnet der Pisa-Primus. Ein Fehlalarm. Oder doch nicht? Das Verblassen der Handschrift ist nur ein Indiz. In Wahrheit ist längst die Schriftkultur bedroht. Ein Eindruck.

In Deutschland war der Aufschrei über den angeblichen finnischen Vorstoß besonders groß. Dabei stellte sich heraus, dass man im Norden im Prinzip deutsche Verhältnisse einführen will. Betroffen ist in Finnland nur das Erlernen der verbundenen Schreibschrift, das ab 2016 nicht mehr zwingend vorgeschrieben ist. Stattdessen könnten die Kinder bei Druckbuchstaben bleiben. Das mit dem Verbundenen ergebe sich dann mehr oder weniger individuell. Ungefähr das ist auch der Stand in Bundesländern wie Hamburg, Berlin, Thüringen und Nordrhein-Westfalen. Dort wird eine der Druckbuchstabenschrift vergleichbare „Grundschrift“ gelehrt. Und später, vielleicht, je nach Neigung des Lehrers, kommt dann noch eine verbundene Schreibschrift dazu. In Rheinland-Pfalz hat man sich darauf verständigt, dass alle Schüler am Ende der Grundschule über eine „gut lesbare, flüssige Handschrift“ verfügen sollen. Wie sie dazu kommen, ist Sache der Schulen. Sie entscheiden über die Schriftart. Sie können die Kinder die lateinische Ausgangsschrift oder die vereinfachte Ausgangsschrift lehren. Möglicherweise brauchen die Kinder in Zukunft keine von beiden. Es ist erstaunlich, mit welcher Verve für die Handschrift gestritten wurde, unter Aufbietung aller Studien, die belegen, wie sie das Denken und das Leben prägt, positiv. Dabei verschwindet im gelebten Alltag schleichend die Schriftkultur überhaupt, nicht nur das handschriftliche Schreiben, das die meisten ohnehin höchstens noch auf Einkaufszetteln praktizieren. Ganz sicher wird jetzt, heute, sehr viel getextet, gesimst, gemailt, getwittert. Nur was? Und wie oft wird bei einer SMS, statt einen Satz des Vergnügens zu formulieren, das Kurz-Kürzel LOL verwendet, auch von denen, die nicht wissen, wie „laugh out loud“ geschrieben wird? Oder ein Wort wird erst einmal so ungefähr richtig dahingetippt, „Ritmus“, die Autokorrektur soll es dann schon in „Rhythmus“ richten. Das sind die Vorstufen. Aber wie sieht es damit aus, wenn in E-Mails statt eines sanft umschriebenen Gefühls ein sogenanntes Emoticon aufblinkt. Bei jedem Update der Software zieren immer mehr Symbole die mehrschichtige Tastaturleiste, der Einfachheit halber zu verwenden, Hund, Katze, Maus, Artischocke, ein grimmiges Gesicht, früher gab es nur Smileys. Virtuosen dürften schon Geschichten damit erzählen können, ohne mit Buchstaben in Kontakt zu treten. Das heißt, wenn sie das, was sie zu sagen haben nicht gleich ihrem Smartphone diktieren, auf WhatsApp. Der Dienst hat mittlerweile eine Tonspur. Der Empfänger kann das selbstredend abhören. Man kann sich Nachrichten auch vorlesen lassen, freie Wahl zwischen Frauen- und Männerstimme. Es gibt Übersetzungsprogramme, simultan. Das funktioniert schon ganz gut. Auch ist Instagram sehr beliebt, eine Plattform, auf der vor allem Fotos gepostet werden. Und immer öfter sieht man Leute durch die Gegend laufen, die sich mit ihren Tablets oder Smartphones oder mit einer Google-Brille unterhalten. Die Geräte starten Suchanfragen auf mündlichen Befehl. Womöglich auf Youtube, einer Internetplattform, auf der Videos laufen, Bilder. Sie ist nach Google wohl die größte Suchmaschine der Welt. Die alten Philosophen wären begeistert, dass man sich mittlerweile wieder anschaut und -hört, wie etwas funktioniert, das Kochen, das Lieben, das Regalzusammenbauen, die Uni-Vorlesung, statt Gebrauchsanweisungen und Aufklärungsbücher zu lesen, oder an die Uni zu gehen. Seit Paulus und seinem Brief an die Korinther heißt es, dass alles Schriftliche Geist tötet. Geschriebenes würde sich von seinem Urheber emanzipieren, uneinholbar von dem, was gemeint war. Die Seele, so glaubte Sokrates, schwinge nur in der Stimme. Die gesamte Philosophiegeschichte ist voller Skepsis gegenüber der Schriftlichkeit, die zugegebenermaßen schriftlich festgehalten ist. Tatsächlich ist sie, die Stimme, die ganz eigene Tonlage, ja auch der eigentliche Träger von Individualität. Das, was bleibt, selbst wenn man sich nicht mehr ähnlich sieht. Schon immer können Menschen sehen. Aber Schrift lesen und schreiben nicht einmal seit 10.000 Jahren. Von der nahezu vollständigen Alphabetisierung der Gesellschaft ganz zu schweigen. Vor rund 50 Jahren erschien das Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ von Marshall McLuhan, darin damals schon die These, dass es mit der Schriftkultur zu Ende gehe. Wir würden wieder zu einer oralen Gesellschaft, meinte der kanadische Philosoph. Die 1894 erfundene, drahtlose Telegrafie hätte den Weg dafür geebnet. Was heute alles möglich ist, hat er noch nicht einmal geahnt. Die Kritik und der Widerspruch an McLuhan waren selbstredend immer wieder heftig. Gleichzeitig hat sich die Welt verändert – bis hin zu Fernsehgeräten, die ihre Besitzer abhören. Vielleicht hat McLuhan für weite Teile der Gesellschaft recht gehabt. Vor allem, weil auch wirtschaftliche Interessen der Schriftkultur entgegenstehen. Vor allem, weil der globalisierte Kapitalismus ja auch mit Menschen ganz gut funktioniert, die nicht lesen und schreiben können. Wer zynisch ist, kann sogar sagen, besser. In Bangladesch zum Beispiel liegt die Alphabetisierungsquote bei nicht einmal 50 Prozent. Die Ausbeutung der Textilarbeiter läuft dort aber ganz gut. Und auch in der westlichen Welt, in der die Gesamtgesellschaft noch nie so gut ausgebildet war wie seit einigen Jahren, und die Anzahl derer, die nie ein Buch liest, nie größer, werden mehr und mehr Arbeitsprozesse über Bildschirmsymbole und audiovisuelle Anweisungen gesteuert, Blinken und Piepsen. Und die Arbeiter mit. Nur noch Arbeitsgeräte überall, die wie die Spielkonsolen aussehen, denen man sich auch in seiner Freizeit widmet. Ein perfekter Verblendungszusammenhang. Die Schulen müssen nur noch angeschlossen werden. So sind in einige davon inzwischen „Smartboards“ eingezogen, fenstergroße Touchscreens. Sie ersetzen die gute alte Tafel. Die Kreide. Das Kratzen. So nämlich sieht die Handschrift der Gegenwart aus.

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