Kaiserslautern Der Kuss des Todes
Mit „Kindeswohl“ hat der 1948 geborene englische Autor Ian McEwan einen in seiner typischen, fast schon lapidaren Sprache verfassten Roman vorgelegt, in dem scheinbar alles klar ist. Was gut ist und was böse, was Recht und was Unrecht, was Liebe und was Hass, alles scheint geregelt und geordnet. Doch ein einziger Kuss bringt die Welt der Heldin Fiona Maye, die als Richterin am High Court in London arbeitet, ins Wanken.
Es ist fast so wie bei Kafka. Dessen Figuren machen einen einzigen, meist winzigen Fehler – und sind verloren. Werden verhaftet oder gar getötet. Ihr Leben gerät völlig aus den Fugen. Und das nur, weil sie vielleicht einmal auf dem Weg zur Arbeit eine andere Straße benutzt haben, in deren dunkelster Ecke schon das Unheil auf sie wartete. Auch Fiona Wayne, die mit dem Londoner High Court das Höchste erreicht hat, was man im Königreich als Juristin erreichen kann, begeht diesen einen, völlig unbedachten Fehler. Die sonst zu souveräne, stets beherrschte, immer ein wenig britisch unterkühlte Mylady – so die offizielle Ansprache vor Gericht, schließlich sind wir in England – lässt sich zu einem einzigen Kuss hinreißen, der einen jungen Mann nicht nur zutiefst verunsichert, sondern letztlich sogar in den Tod treibt. Oder ins Paradies. Man weiß das ja nicht immer so genau. Fiona ist fast 60, Adam vor kurzem 18 geworden. Auch wenn ihr Jack, ihr Mann, gerade den Vorschlag gemacht hat, dass er mit der 30 Jahre jüngeren Melanie ein Verhältnis eingehen möchte, ohne damit ihre Ehe gefährden zu wollen, also sich noch einmal richtig austoben will, bevor es dafür zu spät ist: So weit geht die Verirrung der chronisch überarbeiteten, an ihrer Kinderlosigkeit still und stumm leidenden Richterin dann doch nicht. Es sind eher Muttergefühle, die sie für den Jungen empfindet und die dieser auch erwidert, indem er sich wünscht, bei ihr wohnen zu dürfen. Einige Monate zuvor hatten sie sich zum ersten Mal gesehen. Adam schwebte in höchster Lebensgefahr, weil der an Leukämie erkrankte Junge dringend eine Bluttransfusion benötigte. Nur lehnten sowohl seine Eltern als auch er selbst eine solche ab. Der Grund: Sie sind Zeugen Jehovas, denen eine solche Vermischung des eigenen mit fremdem Blut untersagt ist. Adam erträumt sich einen romantsch verklärten Heldentod, den sich auch seine Sekte wünscht. Das Krankenhaus will sein Leben retten, und Fiona muss darüber entscheiden, weil er mit 17 Jahren noch nicht volljährig ist. Sie entscheidet sich gegen seinen Glauben, gegen seinen Willen, gegen seine Eltern, gegen seine Gemeinde, gegen seine Träume – und für sein Leben. Für ein Leben voller Liebe, wie sie hofft, befreit aus den Fängen eines Glaubens, der bereit war, ihn zu opfern. Bevor sie diesen Richterspruch fällt, besucht Fiona Adam im Krankenhaus – eine der intensivsten Szenen des Buches. Sie ist fasziniert von dem jungen, charmanten und trotz seiner schweren Erkrankung schönen jungen Mann. Sie lässt sich Gedichte vorlesen, singt gemeinsam mit ihm „Drunten beim Weidengarten“ von William Butler Yeats, das Benjamin Britten vertont hat. Wie ein Fremdkörper frisst sich da in ihr analytisches Urteilsvermögen ein Gefühl hinein, das man wohl nicht anders als mit Liebe bezeichnen kann. Eine Liebe, die erwidert wird, die harmlos ist und doch den Jungen aus der Bahn wirft. Er ist dankbar für das Leben, das sie ihm geschenkt hat. Nach der Transfusion erfüllen sich zunächst die positiven Prognosen der Ärzte. Adam scheint gesund, aber er zweifelt an der Basis seines Lebens: an seinem Glauben. Er distanziert sich von seinen Eltern, seine Gemeinde wird ihm immer fremder. Er schreibt Fiona Briefe, reist ihr durch ganz England nach – bis es zu jenem verhängnisvollen Kuss kommt. Kurz vor einem Konzertauftritt zusammen mit einem Anwaltskollegen erfährt sie, dass bei Adam die Krankheit zurückgekehrt war und er, mittlerweile volljährig, sich gegen eine zweite Bluttransfusion entschieden hatte. Adam starb, nachdem er ihr zuvor eine pathosgeschwängerte Ballade geschickt hatte, in der sie als verführerische Nixe, als Werkzeug des Satans auftritt, die Adam mit ihrem Kuss vom rechten Weg abgebracht hat. Das Ende des Textes kann sie erst später entziffern. Aber es stürzt sie in tiefste Verunsicherung. Ein rächender Jesus schmettert da dem lyrischen Ich, das niemand anders als Adam selbst ist, entgegen: „So soll er, der mein Kreuz ertränkt, mit eigner Hand sein Leben enden.“ Für Fiona ist Adams Tod Selbstmord. Und sie fühlt sich schuldig daran, weil sie ihm zwar das Leben geschenkt, zugleich aber auch seine Lebensbasis genommen hat. Der Junge verlor seinen Glauben, die Sicherheit einer Familie und wollte sich in ihre Arme flüchten. Doch sie hatte ja noch nicht einmal den Mut, auf seine Briefe zu antworten. Was war nun Recht, was Unrecht? Wer ist also schuld am Tod des Jungen? Wer verhinderte, dass die Maßgabe Kindeswohl wirklich zur Maxime des Geschehens werden konnte? Fiona? Die Eltern? Die Sekte? Gott gar? Von Ian McEwan wird man keine Antworten auf solch letzte Fragen des Seins erwarten dürfen. Er schildert, sehr lapidar, selten emotional überschäumend, immer aus der distanzierten Haltung des Erzählers heraus das Geschehen. Beschreibt das Ringen seiner Hauptfigur um die allein richtige Entscheidung, die es wohl weder vor Gericht, noch im Privatleben gibt. Am Ende, als sich Fiona endlich einmal gehen lässt, dem Druck nachgibt und hemmungslos über den Tod des Jungen weint, findet sie auch zu ihrem Mann zurück. Sie öffnet sich wieder für ihn, der sie doch so schamlos betrogen hat, und sie erkennt Trost in der Aussicht, dass ihre „Ehe holpernd in ihren gewohnten Gang“ zurückfinden wird.