Kaiserslautern Baukasten Russland

Andere Opernhäuser kürzen Werke, Frankfurt „skelettiert“, wie Dramaturg Norbert Abels so brutal wie zutreffend sagte. Was dann noch an wenigen Knochen übrig blieb von Michail Glinkas einstigem Vier-Stunden-Opus „Iwan Sussanin“ füllte Harry Kupfer mit holprigen deutschen Texten, Panzern und einer großen Portion Melancholie. Konsequent machte er das.

Überhaupt trieft die Deutung an der Oper Frankfurt vor nationalistischem Pathos und schwerer, kalter, russischer Winterdepression. Hans Schavernochs Bühnenbild passt beeindruckend: stürzende Bauten, zerbrochene Glocken, die an alte Größe und aktuelle Kriegsgräuel mahnen. Licht (Joachim Klein), das traurig macht. Nachdenklich zumindest. Überhaupt ist „nachdenklich“ das Adjektiv dieses Premierenabends. Kupfers Kürzung und Interpretation ist weder packend noch großartig, aber sie gibt zu denken. Der bekannte Regisseur versetzt die Handlung von 1613 in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Was bei Michail Glinka einst polnische Truppen waren, sind nun deutsche Soldaten. Die führen im zweiten Akt erst lustige Tänzchen zu beschwingter Musik auf, Frauen feiern cocktailselig in Galakleidern. Im Hintergrund thront der Panzer. „Schlagt sie tot!“, singt diese pervers fröhliche Gesellschaft, als wäre Töten die erhabenste Sache der Welt. Die anschließenden Buhrufe aus dem Publikum – mitten im Stück – zeigen: Wir erschrecken. Immer wieder vor der eigenen Vergangenheit – aber auch davor, wie Nazi-Gebaren sich mit sinfonischer Musik mischt. Genialer Schachzug von Kupfer und seinem Team: In der ansonsten russischsprachigen Oper lässt er die deutschen Truppen in deutscher Sprache singen. Das rüttelt doppelt auf, auch wenn die Übersetzung des Öfteren sperrig ist, nicht ganz mit der Musik harmoniert. Chor und Extrachor (Tilman Michael) brillieren mit hoher Textverständlichkeit. Überhaupt sind die Choristen Hauptakteure des Abends, in jedem Akt auf der Bühne. Bei den Solisten ist Katharina Magiera als Wanja ein Erlebnis. Lyrisch, voll, selbstbewusst singt die Altistin; kann aber auch ins Träumerische wechseln, wenn der zierliche Wanja vom großen Soldatenleben fantasiert. Schön ist hier das Duett mit John Tomlinson als Iwan, der später auch in seiner 20-minütigen Arie das ganze Leid seiner Situation in der Stimme trägt. Ansonsten verbleibt das raue Timbre des Basses hinter dem zurück, was von dem Sänger zu erwarten war. Kateryna Kasper als Antonida singt mal natürlich schlicht, dann feurig besorgt. Das Orchester unter Sebastian Weigle spielt bereits in der Ouvertüre mit locker-springender Phrasierung, überzeugt im Ganzen. Das ist also Harry Kupfers Griff in den Baukasten Russland. Die Kürzungen sind so gewählt, dass die Handlung verständlich bleibt. Allerdings: So wirklich viel passiert im Glinka-Werk ohnehin nicht. Viele Gefühle, viele Gedanken. Es ist nachvollziehbar, warum „Iwan Sussanin“ es bislang nicht ins Repertoire geschafft hat. Am Schluss feiert Frankfurt seine Sänger und Musiker. Für das Regieteam gibt es einen akustischen Kampf zwischen Bravo- und Buhrufern im ersten Rang. Der dürfte in seiner Lautstärke aber wohl eher theatralischer Natur sein.

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