Kaiserslautern Besitz und Talente teilen

Was für die Bewohner wichtig ist, wird ausgehängt: in einem generationenübergreifenden Wohnprojekt.
Was für die Bewohner wichtig ist, wird ausgehängt: in einem generationenübergreifenden Wohnprojekt.

Die Familie lebt weit weg, die Miete ist teuer und die Nachbarn grüßen nicht mal: Viele Menschen fühlen sich an ihrem Wohnort einsam. Gemeinschaftliche Wohnprojekte setzen einen Gegentrend. Und dieser boomt.

Die junge Mutter Marischa Broermann trägt ihre zweijährige Tochter auf dem Arm und zeigt auf einen weitläufigen Raum zum großen Garten hin. „Dies ist unsere Sommerküche, da können wir dann Marmelade einkochen oder bei Festen Suppe kochen.“ Gleich daneben liegt ein Steinrondell – das „Amphitheater“ für Veranstaltungen. Durch die Sommerküche gelangt man zu den Gästezimmern, der Werkstatt, einem Baderaum und der Tiefgarage mit verschiedenen Fahrzeugen, auf die Broermann Zugriff hat. Auch für die kurzfristige Betreuung ihrer Tochter ist meist jemand zur Stelle. Wie die 30-jährige Erziehungswissenschaftlerin es geschafft hat, eine solch ungewöhnliche Wohnstatt zu finden? Sie teilt. Erst vor wenigen Tagen ist Marischa Broermann in das generationenübergreifende Wohn- und Lebensprojekt „Agora“ in Darmstadt eingezogen. Mit 90 Menschen in 50 Wohnungen ist es eines der größten gemeinschaftlichen Wohnprojekte in der Region. Broermann hat damit eine Wohnform gewählt, die nach Ansicht von Experten bundesweit immer mehr Anhänger findet. Ein Grund ist neben dem immer teurer werdenden Immobilienmarkt der Wunsch nach mehr sozialem Zusammenhalt. Prominentes Beispiel ist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die seit Jahren mit ihrem Mann im integrativen Wohnprojekt „Schammatdorf“ in Trier lebt. „Es ist ein Gegenmodell zur wachsenden Anonymität in der Gesellschaft“, sagt die Sprecherin des Netzwerks für gemeinschaftliches Wohnen in Frankfurt, Birgit Kasper. Ihrer Erfahrung nach gibt es deutlich mehr Nachfragen als Angebote, Tendenz weiter steigend. Formen gemeinschaftlicher Wohnprojekte gibt es viele – vom Seniorenhaus bis zum mehrere Gebäude und Generationen übergreifenden Projekt. Das hessische Sozialministerium misst solchen Ideen eine besondere Bedeutung zu: „Sie bieten gute Möglichkeiten, den Lebens- und Wohnvorstellungen vieler Menschen gerecht zu werden, nämlich, selbstständig zu leben, aber nicht allein, unabhängig zu sein, aber mit Verantwortung für andere und nur im Notfall, aber nicht ,rundum’ versorgt zu sein“, erklärt das Ministerium. „Zu eng, zu klassisch, zu spießig – wir wollten im Alter einfach nicht in der Kleinfamilie wohnen“, sagt die Psychologin und „Agora“-Mitbegründerin Beate Fischer-Schlappa (64). Die Idee zu „Agora“ sei vor 15 Jahren bei einem Treffen von Freunden entstanden. Schnell sei klar gewesen, dass es ein größeres Projekt für alle werden sollte: Heute sind die Wohnungen barrierefrei, es gibt einige Sozialwohnungen, einige speziell für Familien, ein öffentliches Lokal und Veranstaltungen von Tangomusik bis zum Flohmarkt für Kinderkleidung. Die einzelnen Wohnungen sind kleiner als viele gewohnt sind, dafür wird Wohnraum geteilt. Wer was wann benutzt und macht, wird auch per E-Mail-Verteiler und Gruppen im Handy-Nachrichtendienst WhatsApp organisiert. Mindestens drei Jahre dauert es aus Expertensicht, bis ein Projekt in die Umsetzung kommt. Zuerst müsse sich die Gruppe finden, Ziele definieren, einen Platz finden und anfangen zu planen. „In dem Moment, in dem das Geld ins Spiel kommt, ist meist die Euphorie weg“, sagt die Sprecherin der Fachstelle für Wohnberatung, Claudia Ulrich. Viele würden die eigenen Finanzen überschätzen und übersehen, dass sie ja auch die Gemeinschaftsräume mitbezahlen müssen. Die Darmstädter Gruppe hat sich bewusst für die Rechtsform der Genossenschaft entschieden, um auch Menschen Wohnraum zu geben, die sich kein Eigentum leisten können. „Natürlich ist es viel teurer geworden als geplant“, so die Psychologin. Statt 12 Millionen Euro kostete „Agora“ dann 15 Millionen Euro. Beim Einzug wird einmalig ein Pflichtteil von 250 Euro pro Quadratmeter fällig, monatlich beträgt das „Nutzungsentgelt“ 12 Euro pro Quadratmeter. Kommt jemand in Geldprobleme, werde auch mal mit anonymen Spenden geholfen. Doch bei all dem Miteinander bleibt auch der gewöhnliche Nachbarschaftsstreit nicht aus. „Es muss schon eine gewisse Konfliktbereitschaft da sein, wenn man in solch ein Projekt zieht“, sagt Ulrich. Ob unterschiedliche Vorstellungen von der Gartengestaltung oder der Beteiligung an gemeinschaftlichen Aktivitäten - wo Menschen zusammenleben, gibt es verschiedene Meinungen. Bewohner in Darmstadt berichten beispielsweise augenzwinkernd von stundenlangen Versammlungen mehrmals im Monat, die quasi ein erster „Test“ für Einziehwillige seien. Andere Projekte setzen laut Ulrich auch auf die professionelle Begleitung von Mediatoren oder Supervisoren. „Das Schöne ist, dass wir nicht nur Besitz teilen, sondern auch Talente“, berichtet Marischa Broermann. Ob Finanzen oder Kuchen backen - jeder finde seine Nische, in der er sich einbringen könne und die ihm leichtfalle.

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