Grünstadt Flüchtlinge aus der Ukraine: In Gedanken bei den Eltern in Mariupol

Maria, Sascha und Igor.
Maria, Sascha und Igor.

Igor, Maria und Sascha hatten ein gutes Leben in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Nun sind Vater, Mutter, Kind und Großmutter Ludmila als Kriegsflüchtlinge in Grünstadt. Maria quält die Frage, wie es ihren Eltern geht, die in Mariupol geblieben sind. Seit Wochen hat sie nichts von ihnen gehört.

Warum? Immer wieder fragt Maria nach dem Warum. Warum lässt der russische Präsident Wladimir Putin Häuser bombardieren, Zivilisten erschießen, ein Land in Schutt und Asche legen? Maria sagt, sie hatte lange keine Antwort darauf. Jetzt hat sie eine, die sich für sie logisch anhört: „Die Ukraine ist ein unabhängiges Land, wir sind unabhängige Menschen. Deswegen mögen sie uns nicht. Deswegen töten sie uns.“ Es ist ein Erklärungsversuch für etwas, wofür es keine rationale Erklärung gibt.

Maria, ihr Mann Igor und der vierjährige Sohn Sascha hatten ein gutes Leben in Kiew. Sie fuhren in den Urlaub, trafen Freunde, hatten eine schöne Wohnung. Heute sind sie Flüchtlinge – und wie es weitergeht, ist offen. Igor, der vor dem Krieg eine Physiotherapie-Praxis betrieb, sagt: „Unser Plan ist es, Deutsch zu lernen. Ich will eine Arbeit als Physiotherapeut finden.“ Für Maria ist das nicht so selbstverständlich: Sie ist Notarin, führte in Kiew eine Kanzlei mit einigen Mitarbeitern. Die 36-Jährige sagt: „Ich habe ukrainisches Recht studiert.“ Und damit könne sie in Deutschland nichts anfangen.

Doch die wichtigste Frage für Maria ist nicht die, wie es mit ihr beruflich weitergeht – sondern wie es ihrer Familie in der Heimat geht. Maria ist in Mariupol aufgewachsen – und ihre Eltern sind dortgeblieben. Wie es ihnen geht, weiß Maria nicht. Sie hat seit Anfang März nichts von ihnen gehört. Kein Telefon, keine WhatsApp-Nachricht, nichts. Sie zeigt Bilder von zerstörten Häusern in der Nachbarschaft, erzählt, wer in welchem Haus gewohnt hat und ist immer noch fassungslos. „Keiner hätte gedacht, dass die Russen Wohnhäuser und Krankenhäuser angreifen“, sagt sie. Aus der vor dem Krieg 430.000 Einwohner zählenden Hafenstadt im Südosten der Ukraine werden mittlerweile Tausende Tote gemeldet.

Der Zwillingsbruder ist Soldat

Es sind nicht nur die Eltern, um die sich Maria Sorgen macht: Ihr Zwillingsbruder ist Soldat in Charkiw im Nordosten des Landes. Der ältere Bruder ist mit seiner Familie auf dem Land untergekommen. Maria erzählt von Cousinen und weiteren Verwandten und Freunden – sie alle leiden, haben ihre Wohnungen verloren, sind auf der Flucht. Sie sagt: „Ich will nur eins: Dass meine Eltern am Leben sind. Ich will meinen Bruder und meine Eltern hören und ich will, dass der Krieg in der Ukraine vorbei ist, die Ukrainer nach Hause können. Ich will unser Leben zurück.“

Maria und Igor können nicht verstehen, dass ein Menschenleben in dieser modernen Welt keinen Wert hat. Der 36-jährige Igor sagt: „Wir leben im Jahr 2022, überall Hightechnology, Kryptowährung, all das ... Und ein Menschenleben ist nichts?“ Ihm tue es leid, dass sein vierjähriger Sohn überhaupt schon habe lernen müssen, was zu tun ist, wenn die Sirenen losheulen.

Du weißt nicht, ob du abends noch lebst

Sirenen haben sie viele gehört. Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar blieben sie zunächst noch in Kiew – auch, weil sie ohnehin nicht aus der Stadt rausgekommen wären: „Es war ein Tag, eine Nacht und noch ein Tag Stau“, beschreibt Igor die Autoschlangen in den ersten Tagen. Eine Woche später – nachdem sie im unterirdischen Parkhaus im Auto geschlafen hatten – haben auch sie Kiew verlassen. „Wir sind vor dem Krieg geflüchtet“, sagt Igor – wie wenn er diese Worte selbst nicht glauben könnte. „Das Risiko war zu hoch. Jeden Morgen machst Du die Augen auf und weißt nicht, ob du abends noch lebst.“ Sie hatten Angst, dass die Russen biologische Waffen einsetzen.

Von der Hauptstadt aus fuhren sie in den Westen: Als auch in Ternopil die Sirenen zu hören waren, brachen sie nach einer Woche wieder auf. Maria, Sascha und Igors Mutter Ludmila fuhren mit dem Auto über die Grenze. Igor wäre zurückgewiesen worden, weil die Männer nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen. Deswegen wanderte er mit einem Freund zusammen über die schneebedeckten Karpaten. Es war anstrengend: 44 Kilometer bei Schnee und Kälte, sie waren einen Tag und eine Nacht, 20 Stunden, unterwegs, es ging hoch bis zu 1850 Meter. In Rumänien traf Igor Frau, Sohn und seine Mutter wieder, sie fuhren mit dem Auto über Ungarn, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland. Er wollte seine Frau, seinen Sohn und seine Mutter nicht alleine lassen, sagt Igor: „Es ist sehr gefährlich. Ich musste alles tun, um meine Familie in Sicherheit zu haben.“ Der Vater von Igor ist im Land geblieben, auch er ist Soldat.

Ihre Nachbarn aus Kiew haben in Carlsberg Aufnahme gefunden, sie gaben ihnen den Kontakt zu Thomas Geib, der der Familie in Grünstadt eine Wohnung zur Verfügung stellt: „Thomas hat ein großes Herz“, sagt Igor.

Er und seine Frau betonen mehrfach, wie dankbar sie für die Unterstützung in Grünstadt sind. Igor sagt: „Ich will ein ganz großes Dankeschön an all diese Familien sagen, die Familien wie der unseren helfen.“ Diese Hilfsbereitschaft der Deutschen habe ihn und seine Familie tief berührt.

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