Wir über uns Anstand im Journalismus: Wie weit darf man bei Unglücken gehen?

Bei Unglücken einfach schamlos draufhalten – ein Trend, den man in vielen Medien seit Jahren beobachtet.
Bei Unglücken einfach schamlos draufhalten – ein Trend, den man in vielen Medien seit Jahren beobachtet.

„Können wir die OP filmen? ... Ist der Typ schon tot? ... Weißt du, die Jungs im Nachrichtenzimmer haben eine Wette laufen ... Bring die Witwe zum Set! ... Wir brauchen schmutzige Wäsche.“

Es sind ätzende Worte, mit denen Don Henley in seinem 1982er Hit „Dirty Laundry“ das Bild einer eiskalten, skrupellosen Reportermannschaft zeichnete, inspiriert von der Berichterstattung zu den Todesfällen der Schauspieler John Belushi und Natalie Wood. Worte, die ganz gut beschreiben, wie viele Menschen über den Journalismus denken. Auch heute noch. Das kommt leider nicht ganz von ungefähr. Immer wieder wird man nach einem Unglück – sei es nun ein Mord, ein tragischer Unfall oder eine sonstige Katastrophe – als Journalist mit der Frage konfrontiert, inwieweit man beim Produzieren eines Beitrags über die eigentliche Nachricht hinausgehen sollte. Ob man der Geschichte über die nüchternen Fakten hinaus noch eine persönliche, emotionale Ebene einziehen sollte. Vor allem dann, wenn große Boulevard-Zeitungen ebenfalls über das Ereignis berichten und eben das genau machen: Sie wollen den Leser über das Gefühl erreichen, sprechen dafür mit Angehörigen, Freunden oder entfernten Bekannten des Opfers, zitieren sie und heben sie traurig dreinblickend groß mit Bild ins Blatt. „Witwenschütteln“ nennt man diese Form der Berichterstattung. Oft verbirgt sich hinter diesem hässlichen Wort dann eine ebenso hässliche Recherche, ein rücksichtslos geführtes Interview, von dem die Befragten in ihrem Schockzustand meist total überrumpelt und überfordert sind.

Zurückhaltung statt „Witwenschütteln“

Eine Zeitung wie die RHEINPFALZ wird sich üblicherweise schon aus Gründen des Anstands gegen das „Witwenschütteln“ entscheiden und möglichst zurückhaltend über solche tragischen Ereignisse berichten. Und wenn es für das Verständnis einer Geschichte doch mal nötig sein sollte, mit Hinterbliebenen zu sprechen, wird sie möglichst schonend mit den Menschen umgehen und ihr Leid nicht aus einer reinen Sensationslust heraus ausschlachten.

Manchmal kann es sein, dass man mit dem persönlichen Anstrich einer tragischen Geschichte Opfern eines Unglücks helfen kann. Menschen beispielsweise, die bei einem Hausbrand alles verloren haben. Oder schwer kranken Menschen. Gibt man ihnen ein Gesicht und eine Stimme, erfahren sie unter Umständen Solidarität und Hilfe aus der Bevölkerung, die sie ohne die Berichterstattung wohl nicht bekommen hätten.

Wie es bei der „yellow press“ läuft

Die Motive der Boulevard-Presse sind hingegen meist nicht so edel. Und die Art und Weise, wie sie an ihre Informationen gelangt, schon gar nicht. Ich erinnere mich noch gut an meine kurze Hospitanz bei einem regionalen Boulevardblatt. Damals ließ ein bekannter deutscher Schauspieler via Pressemitteilung verlauten, dass sein acht Monate alter Sohn dem plötzlichen Kindstod zum Opfer fiel. Von weiteren Anfragen bat er abzusehen, die Familie sei in Trauer. Da wurde bei diesem Boulevardblatt dann eiligst eine Konferenz einberufen, in der beratschlagt wurde, wie man den Schauspieler oder Verwandte/Freunde/Bekannte von ihm unter Druck setzen könnte, um an weitere Infos zu kommen. Mit der Recherche wurde dann ausgerechnet eine Schwangere betraut – weil die ja „einen ganz anderen Zugang zum Thema“ hatte. Eine ekelhafte Szene, die ganz gut zeigt, wie solche Medien arbeiten.

Das „Witwenschütteln“ ist aber beileibe kein reines Zeitungsphänomen. Auch manche TV-Sender arbeiten so. Den Trend hatte schon 2002 das Adolf Grimme Institut erkannt, das damals die Berichterstattung rund um die Anschläge vom 11. September unter die Lupe nahm. „Selbst in den Redaktionen von Nachrichtensendungen und seriösen Politik-Magazinen wird für bestimmte Beiträge immer häufiger auf mildernde Umstände plädiert: Der Zweck bestehe in diesem Falle ja darin, die ,Emo-Schiene’ zu bedienen. Früher nannte man das: ,auf die Tränendrüsen drücken’. Gerade das Leiden sucht im Fernsehen einen optischen Ausdruck. Oft steht es in den Gesichtern geschrieben. Der Respekt aber vor den Leidenden geht immer stärker verloren. Hemmungslos wird bei Trauernden ,draufgehalten’. Hier hat sich eine Veränderung vollzogen, die vielen Journalisten gar nicht mehr bewusst ist. Distanzlosigkeit gilt als Mitleid; das sogenannte ,Witwenschütteln’ längst als lässliche Sünde“.

Der Trend hat sich über die Jahre durch den sich verschärfenden Wettbewerb sicher nicht abgeschwächt. Ein Trend, dem wir uns nicht anschließen wollen. Der Stil der RHEINPFALZ ist das „Witwenschütteln“ nicht.

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