Grünstadt Opfer des Abwehrexzesses

Ein weißer Brasilianer: der Autor.
Ein weißer Brasilianer: der Autor.

un hat es also auch Brasilien erwischt. Nach Deutschland, Spanien, Argentinien und Portugal ist „die Sellesau“ (Béla Réthy) der nächste Turnierfavorit, der vor dem Halbfinale dieser Fußball-Weltmeisterschaft die Segel streichen musste. Das Mitgefühl aller Fußballbegeisterten und derjenigen, die einfach nur Fußball schauen, weil nichts anderes im Fernsehen kommt, hält sich dabei in Grenzen. Statt tröstender Worte finden sich im Internet lediglich Häme, Spott, sowie einigermaßen lustige Memes und Videos. Der Grund dafür ist leicht auszumachen: Er trägt jede Menge Tattoos, eine Frisur aus den Neunzigern und kostet im Einzelhandel knapp 222 Millionen Euro. Ja, Neymar da Silva Santos Júnior hat sich bei dieser Weltmeisterschaft nicht um den Preis als weltweiter Sympathiebolzen beworben: Kaum ein Spiel, in dem er keine theatralische Glanzleistung ablieferte, die Mutter seines Gegenspielers beschimpfte oder dem Schiedsrichter das Regelwerk erklärte. Verstand man unter „einen Neymar machen“ vor kurzem noch einen komplexen Bolzplatztrick, werden sich Jugendliche in Zukunft bei dieser Anweisung vermutlich auf den Boden werfen und eine mittelschwere Kriegsverletzung vortäuschen. Es gab sicherlich schönere Anblicke bei dieser Weltmeisterschaft. Den Isländer Rurik Gislason, zum Beispiel. Oder die schwedischen Zuschauerinnen vor dem Siegtreffer von Toni Kroos. Doch rechtfertigt das Auftreten Neymars einen derartigen Zivilisationsbruch, wie er derzeit an zahlreichen Stammtischen und in sozialen Netzwerken zu finden ist? Dass man dem Brasilianer wünscht, dass ihn „jemand endlich mal so richtig über die Bande kloppt“? Gleich „das ganze Knie zertrümmert“? Oder dass man primitivste Mutmaßungen über seine Sexualität anstellt? Man vergisst bei der ganzen Empörung schnell: Neymar ist tatsächlich ein so unfassbar talentierter Fußballer, dass er an guten Tagen eben nur mit einem Foul zu stoppen ist. Und bei dieser WM bekam er die geballte Ladung traditioneller Verteidigungskunst zu spüren. Davon zeugen seine zerlöcherten Fußballstutzen ebenso wie sämtliche Foul-Statistiken. Mag sein, dass Neymars Umgang mit diesem Abwehrexzess souveräner hätte sein können. Allerdings schrammte der schmächtige Brasilianer bei seiner Heim-WM vor vier Jahren auch nur hauchdünn an einer Vollkatastrophe vorbei. Hätte der Kolumbianer Juan Zúñiga seinen Kniesprung ein paar Millimeter höher angesetzt – Neymar würde heute im Rollstuhl auf der Ehrentribüne neben FIFA-Präsident Infantino sitzen, leer vor sich hinstarren und überteuerte Cocktails schlürfen. Und wir würden an dieser Stelle betroffene Diskussionen darüber führen, wie man solche Ausnahmekönner vor brutalen Abwehrmetzgern bessern schützen könnte. Nun muss man Neymar nicht dafür mögen, dass er seine Beine noch bewegen kann. Allerdings sollte man zur Kenntnis nehmen, dass er seine Beine noch ziemlich gut bewegen kann. Und dass er als hochbegabter Unterschiedsspieler eines der wenigen Glanzlichter bei dieser an spielerischen Höhepunkten recht armen Weltmeisterschaft war. Gäbe es nicht solche Typen wie ihn, es bliebe uns nur der Blick auf den Isländer Gislason. In Zeitlupe und Großformat. Und das, liebe Männer, das kann niemand von uns wollen! Die Kolumne Unser Autor kann auf eine lange und erfolglose Karriere in den Niederungen des Amateurfußballs zurückblicken. Hier schreibt er wöchentlich über Schwalbenkönige, Kabinenrituale und Trainingsweltmeister – rein subjektiv natürlich, denn die Wahrheit liegt sowieso auf dem Platz.

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