Grünstadt Grünstadt: Spezieller Fließbeton für Baustelle an Martinskirche

Reportage: Wer denkt, auf der Baustelle an der Martinskirche passiert nichts, irrt: Das Stabilisieren des Kirchturms ist eine Wissenschaft für sich.

Erstaunlich flink huschen die von der jahrzehntelangen Arbeit auf dem Bau gestählten Finger über die Computer-Tastatur. Der Mann in den blauen Latzhosen – auch die haben augenscheinlich etliche Baustellen hinter sich – greift mit seiner rechten Pranke nach der mickrig erscheinenden Computer-Maus. Die Pranken gehören Roland. Roland ist Polier des vierköpfigen Trupps der Firma Keller in Grünstadt. Ihr Auftrag: Verfestigen des ausgetrockneten Bodens unterm Fundament des schiefen Turms der Martinskirche. In den vergangenen vier Wochen hat der Trupp dazu 43 zwölf Meter tiefe Löcher rund um den Kirchturm gebohrt. Da war Roland noch ganz oben auf dem Bock und hat den Riesen-Diamantbohrer bedient. Wenn er da auf harten Untergrund gestoßen ist, hat er kurzerhand auf Schlagbohren umgestellt – und lautes Wummern dröhnte in die Neugasse und Fußgängerzone.

"Soilfrac-Verfahren" für Bohrlöcher

Heute ist es dagegen vergleichsweise ruhig. Nur ein leises, gleichmäßiges Brummen liegt in der Luft. Und das, obwohl im „Soilfrac-Verfahren“ Spezialbeton in die Bohrlöcher verpresst wird. „Wir machen jetzt jeweils die zwei untersten Stufen in jeder zweiten Lanze“, sagt Roland. Stufen, Lanze, Soilfrac? Das Stabilisieren des Kirchturm-Untergrundes ist eine Wissenschaft für sich. Der Polier geht aus der Baubude zum nächsten Container. Dort tippt Andreas mit einem dünnen Stift auf den Start-Button der Mess- und Steuerungszentrale, dem Gehirn der unterirdischen Arbeiten.

Fünf Liter Spezialbeton

Sofort tut sich was auf der Messanzeige: Lanze: 23, Stufe: 25, Durchfluss: 5, Druck: 10. Für den Otto-Normalleser übersetzt: Im Bohrloch unter der am Kirch-Sandstein markierten Nummer 23 fließen momentan pro Minute fünf Liter Spezialbeton aus dem 25. – und damit tiefsten – Ventil des Rohres mit einem Druck von zehn Bar ins Erdreich. Andreas nickt zufrieden. Das sind sehr gute Werte fürs Soilfrac-Verfahren: Das Injektionsgut hat damit in elf Metern Tiefe genügend Fließwege (englisch: fracs) gefunden. Etwa 50 Liter der speziellen Injektionsflüssigkeit verteilen sich innerhalb von zehn Minuten strahlenförmig in einem Umkreis von zirka 50 Zentimeter in die Erde. Wenn es in den nächsten Tagen ausgehärtet ist, ist der Boden dort kompakter und belastbarer.

Fingerspitzengefühl und Erfahrung

Nach und nach steigt der Druck an, als er nach zehn Minuten auf acht Bar klettert, bricht Andreas das Verpressen mit einem Stift-Klick auf den Stop-Button der Zentralsteuerung ab. Per Handzeichen signalisiert er Azubi Samuel das Ende der Injektion am Ventil 25 in Bohrung 23. Samuel zieht den Schlauch bis zur nächsten gelben Markierung aus dem Loch, genau 40 Zentimeter. Denn 40 Zentimeter über dem untersten befindet sich das nächste Ventil. Nach oben und unten über Manschetten abgeschottet, ist gewährleistet, dass der Flüssigbeton nur dort rausgepresst wird. Samuel zeigt per Hand die richtige Position des Schlauches an, Andreas lässt’s laufen. Aber hoppla – schon nach ein paar Sekunden springt die Druckanzeige auf fast zehn Bar. Andreas stoppt den Zufluss, lässt dem Beton in der noch unbekannten unterirdischen Schicht Zeit. Manchmal dauert’s halt etwas, sich die Fließwege zu erschließen, die lokale Schicht aufzusprengen. Da braucht’s Fingerspitzengefühl und Erfahrung. Die hat der Grünstadter Trupp, der an Projekten in ganz Deutschland zusammenarbeitet.

Mischverhältnis exakt auf Untergrund abgestimmt

Erneuter Versuch. Wieder springt der Druckanzeiger hoch. Andreas bricht ab. Auf Stufe 24 sind sie wohl auf eine Kalksteinschicht getroffen. Keine Chance (und Notwendigkeit), dort den Boden mit der Suspension zu stabilisieren. Samuel wird signalisiert, den Schlauch rauszuziehen. Petrov rührt derweil einen weiteren Bottich des speziellen Fließbetons an. Die Zaubermixtur besitzt nicht nur ideale Stabilisierungsfaktoren, sondern auch eine gewisse Elastizität. Die sorgt dafür, dass bei eventuell Jahre später notwendigen Zusatzinjektionen weitere Verbesserungen möglich sind. Das flüssige Gemenge im Vormischer beobachtet Petrov ganz genau. Das Mischungsverhältnis ist exakt auf den Grünstadter Untergrund abgestimmt, über Materialproben überprüfen Roland und Andreas laufend die Qualität des Fließbetons. Der Azubi stapft einen Meter weiter zur Nummer 25, dem übernächsten Bohrloch. „ ...jede zweite Lanze...“ hatte Roland gesagt. Dort schiebt er den Schlauch bis zur letzten Markierung in das in der Erde verschwindende Stahlrohr auf elf Meter Tiefe. Handzeichen an Samuel. Mit dem Stift tippt er auf den Startknopf. Die Steuerung springt wieder an.

„Entscheidend ist, was der Turm sagt“

Polier Roland marschiert unterdessen hinter den 60 Meter hohen Kirchturm. Über ein Nivelliergerät blickt er auf die für Laien nichtssagenden Markierungen auf dem Sandstein. Er kontrolliert, ob sich am Höhenlevel der Kirchenmauern was tut. Vermutlich ist es noch zu früh für eine Hebung, aber man weiß ja nie. „In der Früh’, mittags und abends“ überprüft der Polier, ob sich die Kirche durch die Injektionen hebt. „Entscheidend ist, was der Turm sagt“, spricht Roland aus über 25 Jahren Arbeiten im Untergrund. Denn sobald die Injektionen auch in höher liegenden Stufen der 43 Lanzen aushärten, kann es bereits „zum Kontaktschluss“ mit dem knapp vier Meter dicken Kirchenfundament kommen. „Und genau dafür sind wir ja da“, stellt er fest und geht wieder zum Laptop. Denn er muss noch alle Flüssigkeits-, Druck- und Zeitangaben, die die Zentralsteuerung zu den heutigen Injektionen in den untersten Stufen der Lanzen 17 bis 33 geliefert hat, ins Tagesprotokoll schreiben.

Zahlenkolonnen und Diagramme per E-Mail

In den beiden nächsten Wochen werden noch einige Male seine Pranken über die Tastatur huschen. Schließlich werden insgesamt 30 Tonnen Spezialbeton auf jeweils 25 Stufen der 43 Lanzen gepresst. Dabei wird jede Injektion genauestens dokumentiert, die das Absenken des 60 Meter hohen, in 20 Zentimeter Schieflage geratenen Kirchturms stoppen soll. Am Ende des Tages mailen die Pranken die Zahlenkolonnen und Diagramme nach Offenbach, dem Sitz der Spezialfirma. Dort sitzt die Bauleiterin des Grünstadter Trupps. Sie kommt mindestens einmal pro Woche an die Martinskirche, um das weitere Vorgehen abzusprechen. „Denn man kann unmöglich prognostizieren, was man da unten vorfindet und wie sich das alles weiterentwickelt“, betont Diane Klein. Der Polier am Laptop nickt. Klein ist 30 Jahre alt, Bauingenieurin und Chefin der Männer mit Untergrund-Erfahrung.

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