Grünstadt Gegen die Ausgrenzung

Erst wird sauber gemacht, dann Freundschaft geschlossen: Andrea Böge und Joseph Simon.
Erst wird sauber gemacht, dann Freundschaft geschlossen: Andrea Böge und Joseph Simon.

Pierre ist anders. Ab und zu muss er Sauerstoff aus einer Maske saugen, und er trägt einen Helm, der ihn bei Anfällen schützt. Aber Pierre kann auch Wundervolles mit seinen meterlangen Schnürsenkeln vollbringen, bis er eine schreckliche Erfahrung macht und sie sich abschneidet. Von Ausgrenzung und Freundschaft erzählt die Choreographin Christina Liakopoyloy in ihrem Inklusionsstück „Special Pierre“ im EinTanzHaus. Eine perfekte Symbiose von Streetdance und Theater, bitter und liebevoll zugleich.

„Missgeburt“, hat ein Schüler auf den Zettel geschrieben und Pierre unbemerkt auf dessen Helm geklebt. „Wäre ich so hässlich wie du, würde ich mich umbringen“, steht darauf. Pierre lächelt, mit erwartungsvollem Blick, und hält nach einem Freund Ausschau. X-beinig stakst er herbei, der Oberkörper vorgelehnt mit verdreht abstehendem Arm. Der Funk-Rhythmus der Musik zuckt und rollt durch seinen Körper. Der französische Breakdancer Joseph Simon spielt Pierre authentisch und mit viel Sympathie, stets bereit, das behindert Anmutende sekundenschnell in Hip-Hip-Moves zu überführen und wieder zurück. Streetdance ist kunstvoll und cool und hat einen langen Weg zurückgelegt, vom brasilianischen Capoeira über die amerikanischen Ghettos in die europäischen Jugendszenen. Er musste sich gegen den etablierten Tanz der Akademien behaupten und erst als ebenbürtige Technik Anerkennung gewinnen. Wie passend, mit seiner Sprache diese Geschichte von Ausgrenzung zu erzählen. Sozialkritisches thematisiert die Heidelberger Choreographin Christina Liakopoyloy mit ihrem 1989 gegründeten Nostos Tanztheater regelmäßig. Sie schaut da hin, wo andere den Blick abwenden: Obdachlosigkeit, Ausbeutung von Frauen, Jugendkriminalität und Rechtsextremismus. Auch bei „Special Pierre“ spricht sie Klartext: Ein cooler Junge (Andrea Böge) macht sich über Pierre lustig, drückt ihm die Stiefelspitze ins Gesicht und dirigiert ihn an seinen überlangen Schnürsenkeln wie eine Marionette. Obwohl Pierre seinen freundlichen Blick nie ganz verliert, reagiert er darauf, indem er sich die Schnürsenkel – sein Markenzeichen und sein kreatives Lieblingsspielzeug – abschneidet. Es gab Vorstellungen, da lachten die Zuschauer, die körperlich und geistig behindert waren, über diese Szene, erzählt Liakopoyloy. „Weil sie die Situation selbst kennen“, sagt sie. Im Februar wurde das Stück uraufgeführt und zuvor in Kooperation mit der südfranzösischen Kinderklinik St. Pierre in der Nähe von Montpellier erarbeitet. Liakopoyloy unterrichtete dort Sieben- bis 16-Jährige in Workshops, studierte ihre Bewegungen, hörte ihre Geschichten und sprach offen mit Müttern von behinderten Kindern. Das Stück ist so konzipiert, dass es reisen und auch in Kliniken vorgeführt werden kann. „Bevor wir es zum ersten Mal zeigten, hatte ich Angst. Denn die Zuschauer saßen selbst im Rollstuhl oder lagen in Betten“, gesteht Liakopoyloy. „Aber sie haben sich sehr gefreut.“ Das Wohlgefühl überwiegt auch, weil die von Julia und Zelia Fonseca extra komponierte Musik mit knackigen Rhythmen und sanften Melodien alles tröstlich umfängt und weil die Botschaft im Kern versöhnlich ist. Das erfreute auch das bunt zusammengewürfelte Publikum in den Kirchenbänken im EinTanzHaus in Mannheim. Gebannt verfolgte es, wie die Putzfrau Grenadine (Andrea Böge) mit ihrem Staubsauger kämpft. Sie streckt dabei ebenso merkwürdig den Po heraus wie Pierre und verheddert sich im Schlauch. „Hier hat sich eine ganze Menge Dreck angesammelt“, sagt sie, als sie die fiesen Zettel auf Pierres Helm findet. Es bahnt sich eine Freundschaft an, die erst noch eine Krise überstehen muss. Zögerlich trauen sich Klein und Groß am Ende zu dem Workshop auf die Bühne, um Pierres Schritte auszuprobieren. Ein Mann im Rollstuhl ruckt mit den Händen vom Rollstuhl aus im Takt mit dem Beat, ein anderer faltet die Hände überm Kopf und geht in die Knie. Und als die Betreuer einer Besuchergruppe Fotos machen, posiert selbst eine anfangs Schüchterne genussvoll im Scheinwerferlicht wie eine Diva. Termine Tanztheater „Special Pierre“ für Menschen ab sieben Jahren, nächste Vorstellungen am Samstag, 22. September, und Sonntag, 23. September, jeweils 17 Uhr, in der Hebelhalle in Heidelberg, Hebelstraße 9. Karten unter info@unterwegstheater.de.

x