Grünstadt Der Mensch ist ein Wanderer

91-116086806.JPG

Erinnern Sie sich noch an den kleinen Aylan, der tot am Strand liegt? Ich erinnere mich an das Gefühl der Scham, das es in mir, in vielen von uns ausgelöst hat: Dieses Bild für unser Versagen gegenüber so vielen Zuflucht suchenden Menschen. Kurz zuvor hatte Bundeskanzlerin Merkel die menschenunwürdige Situation zahlreicher Flüchtlinge in Ungarn beendet und ihnen den Weg zu uns eröffnet. Ich weiß, was ich damals empfand: Stolz auf unser Land, auf die Willkommenskultur so vieler Landsleute. Stolz empfinde ich heute noch, wenn ich sehe, wie viele sich für zugewanderte Menschen einsetzen; was offene und hilfsbereite Mitmenschen gerade auch unter uns alles schaffen. Es ist berührend, in die Gesichter von Menschen zu schauen, die von weit her kommen und hier bei uns angekommen sind; die sich integrieren, die glücklich sind. Die Menschen, die ich sehe, spiegeln mir meine eigene Migrationsgeschichte. Meine Vorfahren sind vor etwa 350 Jahren in die Pfalz zugewandert; wie so viele Pfälzer, die das vom Krieg entvölkerte Land wieder besiedelt haben. Der heutige Pfälzer ist multikulturell aus vielen Regionen Europas. Der Mensch ist ein Wanderer (lateinisch: „homo viator“). Aus der Wiege der Menschheit Afrika zog er aus in die ganze Welt und besiedelte auch Europa. Durch diese Völkerwanderung tauchten neue Völker in Europa auf, die das christliche Abendland mit prägten. Zahlreiche Pfälzer wiederum wanderten im 18./19. Jahrhundert nach Amerika aus und fanden dort eine neue Heimat. Es gibt keinen Menschen ohne Migrationshintergrund, ohne Wurzeln in Afrika. Und auch wenn Menschengruppen sich eine je eigene nationale Identität gegeben haben, so gehören sie doch im wesentlichen alle zusammen. Dafür steht wie keine andere globale Bewegung das Christentum. Alle haben wir unseren Glauben von Ausländern empfangen, die zugewandert sind. Und der Missionsauftrag Jesu Christi schickt uns immerzu zu Menschen, gerade auch anderer Kultur und Religion, um mit ihnen unseren Glauben und damit natürlich auch unser Leben zu teilen. Am Ende unseres Lebens müssen wir alle auswandern: aus dieser Welt – auf der Suche nach der neuen Heimat. Unser Glaube lässt uns darauf hoffen, dass wir sie finden: die gemeinsame Heimat der ganzen Menschheitsfamilie. Ich stelle mir vor: Zusammen mit meinem Herrn werden mich nicht nur meine Lieben, sondern auch all die Fremden, vielleicht darunter der kleine Aylan, empfangen. Was werden sie zu mir sagen? Hoffentlich: „Willkommen – daheim!“ DER Autor Martin Tiator ist Leitender Pfarrer der Pfarrei Heilige Elisabeth, Grünstadt

x