Grünstadt „Beobachtet, bewertet, beurteilt“

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Frau Reidick, haben Sie die Aussagen von Per Mertesacker im März überrascht?

Ja und Nein. Es ist klar, dass Druck ein Thema ist, besonders wenn der Fußballer in der Öffentlichkeit steht. Normal ist auch, dass Sportler diesen Druck spüren. Was mich etwas erstaunt, ist die Intensität, die er beschreibt. (Zur Sache) Reden wir hier schon von einer psychischen Erkrankung oder ist er vielleicht nur ein besonders sensibler Mensch? Weder noch. Druck kann positiv sein, aber auch zu starkem Stress führen. Unterschiedlich ist die Reaktion der Menschen auf diese Situation und es ist nur menschlich, dass einige Probleme haben, damit umzugehen oder diesen Stress auszuhalten. Es gibt nur ganz wenige Fußballer, denen es vollkommen egal ist, wenn sie ins Stadion einlaufen und die Fans pfeifen. In der Regel kann ein Spitzensportler diese Aufregung gut umlenken und positiv nutzen. Manchen fällt es schwerer, so vielleicht auch Per Mertesacker. Aber, dass er großen Druck empfindet, da spricht er, glaube ich, für ganz viele Leistungssportler. Egal, was man macht – man wird immer beobachtet, bewertet und beurteilt. Es ist schwer, das zu ignorieren. Glauben Sie also, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt? Wenn man sich die Reaktionen auf seine Aussagen anschaut, scheint es, dass vermeintliche Schwäche immer noch ein Tabuthema in der Sportwelt ist. Natürlich. Der Sportler ist der Starke, der sich nichts anmerken lassen darf. Und es wird vom Publikum so gewünscht. Beim Fußball ist dieses Bild wahrscheinlich noch tiefer verankert als in anderen Sportarten. Man stellt sich nicht vor die Mikrofone und sagt, dass einen bestimmte Situationen berühren. Deswegen finde ich den offenen Umgang von Per Mertesacker mit diesem Thema sehr gut und mutig. Er ist kein Einzelfall. Sie waren selbst erfolgreiche Sportlerin. Wie sind Sie mit Druck umgegangen? Ich glaube, ich selbst war damals sehr widerstandsfähig. Aber natürlich gab es Wettkämpfe, bei denen ich besonderen Druck gespürt habe. Bei den Olympischen Spielen sitzen 70.000 Zuschauer auf den Rängen und man selbst weiß, dass man 15 Jahre seiner Zeit geopfert hat, um dahin zukommen. Und wenn man jetzt eine Hundertstelsekunde am Start verpennt, dann ist der ganze Lohn weg. Da möchte ich einen Menschen sehen, der cool bleibt, das nehme ich keinem ab. Entscheidend in solchen Situationen ist der Umgang mit diesem Druck. Ist man trotz der starken Anspannung handlungsfähig und kann sein Vermögen abrufen? Lothar Matthäus hat gesagt, mit solchen Aussagen könne Mertesacker kein Vorbild für junge Sportler sein. Sie sind im Nachwuchszentrum des 1. FC Kaiserslautern tätig. Können sie diese Kritik nachvollziehen? Nein, überhaupt nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Damit sich junge Sportler an solche Situation gewöhnen können, ist es wichtig, dass sie offen darüber sprechen dürfen. Wenn diese Athleten einen Trainer haben, der alles immer betont cool nimmt und nie solche Situationen wahrzunehmen scheint, ist er für mich kein Vorbild. Ich bin mir im Gegenteil sicher, dass ein Coach, der für so etwas offen ist, ein ganz anderes Standing in der Mannschaft erhält. Wie geht man beim FCK mit dem Thema um? Es gibt mittlerweile auch zum Bereich Sportpsychologie einen Ausbildungskatalog vom DFB – genau wie zu Technik oder Taktik. Bekannt ist, dass der Umgang mit Druck trainiert werden kann. Deshalb werden diese Themen früh erarbeitet, um die jungen Sportler gut vorzubereiten, ihre Persönlichkeit zu stärken und sie zu schützen. Ein großer Teil meiner Arbeit beim FCK ist deshalb die Prävention. Haben die Jungs überhaupt eine Sensibilität dafür oder sehen die nicht eher das glitzernde Bild der Stars? Natürlich sehen sie den strahlenden Profi und möchten einmal so werden wie er. Aber sie leben auch ihren Alltag und werden bereits in jungen Jahren mit Drucksituationen konfrontiert – natürlich in abgeschwächter Form. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie in der Schule als FCK-Spieler wahrgenommen und beurteilt werden oder an Spieltagen Leistungen erbringen müssen. Einigen ist der öffentliche Druck schon früh bewusst – wenn auch nicht allen. Wird in der Mannschaft darüber geredet? Offen? Eher weniger. Sie haben doch gerade Matthäus erwähnt – so lange solche Sprüche kommen, fällt das schwer. Ich weiß nicht, ob ich jungen Spielern empfehlen würde, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Das Umfeld für Leistungssportler hat sich ja auch rasant gewandelt. Die Öffentlichkeit war früher eigentlich nur im Stadion präsent. Ja klar, bei uns früher gab es keine sozialen Medien, kein Whatsapp, Facebook, Twitter. Wenn mich jemand hätte fertig machen wollen, dann wäre das höchstens mal in der Zeitung gestanden – und auch da eher nur in den Boulevardblättern. Heute können Sportler viel Häme und Beleidigungen im Internet ausgesetzt sein. Wie kann man Spieler davor schützen? Wir haben beim FCK einen Pädagogen. Seine Aufgabe ist es unter anderem, die Spieler im Umgang mit sozialen Medien zu schulen und sie mit plötzlicher Bekanntheit vertraut zu machen. Zusätzlich gibt es auch Schulungen vom DFB, bei denen den Spielern der sinnvolle Umgang mit Medien gezeigt wird. Sie zum vorsichtigen Umgang mit diesen Medien zu überzeugen, ist aber nicht ganz einfach. Es ist gegen den Zeitgeist. Wir alle nutzen diese Medien ja gerne. Aber wenn mal etwas passiert, dann kann es ganz schnell gehen, dass Spieler dort öffentlich fertiggemacht werden. Es heißt dann immer: Die verdienen Millionen und es zwingt sie ja keiner, Profi zu werden. Ich weiß nicht, ob sich manche Spieler dies als Trost sagen. Ich finde nicht, dass jemand das Recht hat, andere zu beleidigen, nur weil diese als Fußballer viel Geld verdienen. Das Geld verdienen sie vor allem, weil Zuschauer kommen. Wenn Fans das nicht wollen und mit der Arbeit des Fußballspielers nicht zufrieden sind, dann sollten sie zuhause bleiben. Mit dem Kauf des Tickets hat man nicht das Recht zur Beleidigung erworben. Außerdem werden diese ganzen Kommentare ja oft ohne Hintergrundwissen getätigt. Dabei habe ich oft erlebt, dass das, was in der Öffentlichkeit gesagt wird, nicht der Realität entspricht. Wie meinen sie das? Na ja, ich gehe als Profi oder Trainer nicht vor die Kamera und gebe alle Infos preis. Als Außenstehendem fehlen mir oft wichtige Details, um mir ein wirkliches Urteil erlauben zu können. Vielleicht gibt es beispielsweise für eine bestimmte Aufstellung gute Gründe, die nicht nach außen getragen werden, allein schon aus taktischen Gründen. Das sind Dinge, die wir als Zeitungsleser oder Zuschauer gar nicht nachvollziehen können. Das Einstiegsalter in den Leistungssport sinkt immer weiter, 16-Jährige debütieren in der Bundesliga. Fehlt da nicht noch die persönliche Reife? Definitiv. Ich finde das sowohl aus psychologischer als auch aus sportlicher Sicht fragwürdig. Es sollte die Frage gestellt werden, ob eine frühe Spezialisierung überhaupt lohnt. Leider herrscht heute die Ansicht vor, dass ein Kind mit sechs Jahren schon fit sein muss, sonst habe es keine Chance mehr. Aus sportwissenschaftlicher Sicht weiß man, dass dem aber nicht so ist. Die Zeit für Entwicklung bleibt dabei begrenzt. Man sieht ja auch, dass viele junge Talente nach wenigen Jahren in diesem Zirkus abstürzen und ihre Leistung nicht mehr bringen. Ja, eine mentale Blockade kann die Leistungsfähigkeit komplett zerstören. Ein Sportler kann perfekt trainiert sein, wenn der Kopf nicht mitspielt, läuft nichts. Es ist nicht einfach, den Kopf freizubekommen und eine Kunst, den Zustand des Flows zu erreichen. Um noch einmal auf Per Mertesacker zurückzukommen: Er war ein großer Fußballer und hat sehr oft super gespielt. Daran merkt man, dass er es trotz dieser extremen Gefühle geschafft hat, in seinem Beruf wie ein Profi mit dieser Situation umzugehen. Ich weiß nicht, ob das einem Lothar Matthäus immer gelungen ist. Haben Sie den Eindruck, dass die Vereine genug machen? Nach dem Selbstmord von Nationaltorwart Robert Enke gab es ja erst einmal viele Absichtsbekundungen. In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Sportpsychologie viel getan. Seit Enkes Tod ist es bei der Lizenzierung der Nachwuchsleistungszentren Pflicht, einen ausgebildeten sportpsychologischen Experten zu beschäftigen. Wie bereits erwähnt, ist die Prävention ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Beim FCK treffe ich auf viele Trainer, die dem Thema sehr offen gegenüberstehen. Nach Robert Enke war natürlich der große Wunsch da, dass so etwas nie wieder passiert. Aber er litt an einer psychischen Erkrankung, das passiert überall in der Gesellschaft. Aber Druck wie im Profisport kann doch eben auch zu psychischen Erkrankungen führen. Natürlich ist das Leben eines Leistungssportlers extrem, der Druck ist groß, die Erwartungen riesig und der Fokus der Öffentlichkeit enorm. Wird der Druck zu groß und der Stress nicht reguliert, bringt der Sportler zu dem eine gewisse Disposition mit, dann kann die Belastung zu einer psychischen Erkrankung führen. Aber Sport an sich macht nicht krank. Der ehemalige DFB-Präsident Theo Zwanziger hatte damals gefordert, man müsse im Sport das „Kartell der Schweiger und Tabuisierer zerschlagen“. Haben Sie Hoffnung, dass das noch eintritt oder liegt es nicht vielleicht in der Natur des Leistungssports, dass die vermeintlich Schwachen dort nichts zu suchen haben? Ich glaube, es liegt vielmehr in der Natur der Gesellschaft – schließlich ist der Sport nur ein Abbild davon. Deutlich wird das für mich bei der Reaktion und den Kommentaren zum Interview von Mertesacker. Das Aufsehen ist groß, den Äußerungen wird Beachtung geschenkt und in unzähligen Artikeln wird das Für und Wider diskutiert. Ich weiß nicht, ob Mertesacker mit so einer Reaktion gerechnet hat und ob er heute seine Äußerungen bereut. Am Karriereende so einen Schritt zu gehen, finde ich gut und mutig. Er ist dadurch für mich auf jeden Fall ein wahres Vorbild – aber kann man sich das als aktiver Sportler erlauben? Ich glaube nicht. Heute sollen alle erfolgreich und perfekt sein und da wollen wir gerade von einem Leistungssportler erwarten, dass er sich outet?

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