Frankenthal Geistige Höhenflüge und Getränke

Euterpia heißt die Muse der Tonkunst und Poesie. Ihr zu Ehren nannte sich ab 1838 ein Club junger Akademiker in Winningen Euterpier. Zu ihnen gehörten Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Begründer genossenschaftlicher Banken, und die Komponistin Johanna Kinkel. Ihre Musik und die Geschichte des hoffnungsvollen Bundes hörten die Besucher des Konzerts „Eine Muse an der Mosel“ am Sonntag im Sturmfeder’schen Schloss in Dirmstein.

Der Kultursoziologe und Hörfunkautor Lutz Neitzert berichtete über die Verbindung junger Leute im gesellschaftlichen Umfeld des Vormärz. Den musikalischen Teil gestalteten Johannes Pardall auf der Viola und Sandra Urba am Klavier. Die Verbindung gleichgesinnter junger Leute wurde von einer Gruppe Koblenzer Gymnasiasten ins Leben gerufen. Raiffeisen besuchte kein Gymnasium, kam aber über freundschaftliche Beziehungen dazu. Geistige Höhenflüge und geistige Getränke standen im Mittelpunkt der Treffen. Die Euterpier haben viel diskutiert und geschrieben. Sie machten Ausflüge in die Natur, besuchten alte Burgen, schrieben Poesie und Prosa, und diskutierten vor dem Hintergrund ihrer humanistischen Bildung über Gesellschaft und Politik. Nach damaligen Maßstäben seien die jungen Leute in Haartracht und Kleidung und überschwänglich guter Laune geradezu „verhaltensauffällig“ gewesen, sagte Neitzert. Zu der Clique gehörten Julius und Karl Baedeker, die späteren Gründer des Reiseführer-Verlags. Albrecht Schöler, später Pfarrer, Publizist und Theologe, muss geradezu wild ausgesehen haben, der Apotheker und Naturforscher Julius Schlickum war dabei und Emilie Storck, die sich in Raiffeisen verliebte. Die Euterpier vermerkten voller Stolz das Paar in ihrer Hauszeitung als die ersten Verlobten aus ihrem Kreis. Später heirateten die beiden. Weil die Euterpier sich auch mit den wirtschaftlichen Umständen der Bauern und Winzer befassten, vermuten Historiker hier einen starken Einfluss auf die Entwicklung von Raiffeisens Genossenschaftsidee. Johanna Kinkel muss eine faszinierende Persönlichkeit gewesen sein. Ihre Stücke, die Pardall und Urba vortrugen, sind allesamt sehr hörenswert. Die Texte hat teils ihr zweiter Mann, Gottfried Kinkel, geschrieben, teils hat sie sie selbst verfasst. Sie hat auch Heinrich Heines „Loreley“ vertont. Doch heute noch bekannt aus dem Kreis der Eurterpier ist nur die Musik von Friedrich Silcher. Gottfried und Johanna Kinkel gründeten einen literarischen Zirkel mit dem harmlosen Namen „Der Maikäfer“. Hier verkehrte die geistige Avantgarde der Zeit: Die Brentanos, Arnims, Mendelssohns und Schumanns, selbst Friedrich Schlegel und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Während die Euterpier vor der Revolution zurückschreckten oder sogar auf der konservativen Seite standen, radikalisierte sich Der Maikäfer. Doch die erhoffte Revolution von 1848 scheiterte. Gottfried Kinkel wurde verhaftet, konnte fliehen und ging nach London. Johanna folgte mit den vier Kindern. Sie arbeitete als Gesangs- und Klavierlehrerin, leitete einen Chor, schrieb Bücher, etwa über Musikpädagogik. Während Gottfried politisch aktiv war, verdiente sie den Lebensunterhalt. 1858 stürzte sie aus dem Schlafzimmerfenster im dritten Stock, es gibt Indizien für einen Suizid. Ihr kompositorisches Werk sind etwa 100 Lieder, Chor- und Bühnenmusiken. Die Musiker am Sonntag spielten nach den Handschriften, denn Kinkels Musik ist – wie Pardall sagte – noch nicht editiert.

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