Frankenthal Alarmschuss bei KSB

Vor 100 Jahren begann der Erste Weltkrieg. Die Frankenthalerin Elisabeth Gering (1909-2002), zuletzt Lehrerin am Karolinen-Gymnasium, hat in den 80er-Jahren ihre Erinnerungen an diese Krisenzeit zu Papier gebracht. Ihr Neffe Otto Gering hat der RHEINPFALZ dieses private Zeitdokument zur Verfügung gestellt; wir veröffentlichen Auszüge daraus.

Ich bin fünf Jahre, höre die Wörter „Krieg“ und „Hungersnot“. Ich habe Angst. Die Mutter tröstet mich: „Nein, nicht Hungersnot, nur ,Kriegsbrot’“ – Vater muss fort. Ich laufe ihm die halbe Treppe nach: „Bring mir etwas mit.“ Er tut es tatsächlich. Im November 1918 bringt er mir einen schwarz-lackierten Griffelkasten mit aufgemalten Maiglöckchen mit. Ich bewahre ihn jahrelang auf. Im Zimmer sitzt Mutter in einem rot und weiß gemusterten Kleid, sie weint. Vater ist in Germersheim stationiert. Mein Bruder und ich dürfen mit ihn besuchen. Wir sind im Kasernenhof – Vater steht am offenen Fenster im Erdgeschoss. Er sieht uns, springt mit einem einzigen Schwung aus dem Fenster, läuft uns entgegen. Er ist mir so fremd in Uniform. Vater ist gelernter Bader und vier Jahre Sanitäter in Mons, bei Lille, im französisch-belgischen Grenzgebiet. Er ist nicht im Geschützfeuer. „Aber ich sehe die Folgen“, sagt er. Im Labor des Lazaretts hat er Bakterienkulturen zu züchten. Der Arzt lässt ihn einen Daumen operieren. Vor einer Armamputation bittet Vater den Arzt, noch eine Nacht zu warten. Er behandelt den Arm die ganze Nacht, am Morgen Besserung. Der ist gerettet. Gegen Ende: Vater ist mit einer Ruhrbakterienkultur beschäftigt. Eine Krankenschwester redet ihn dumm an. Im Ärger schluckt er heftig am Röhrchen. Er wird schwer krank. Noch 1918/1919 liegt er Monate im Bett . Daheim: Knappheit, Salzkartoffeln statt Frühstücksbrot, aber kein Hunger. Ein Weihnachtsabend, halb dunkel, wenig Kerzen. Ich bin enttäuscht, nur ein blaues Ölkännchen ist neu in meiner Puppenküche. Ein anderes Weihnachtsfest, wir zwei Kinder haben nur einen großen Wunsch: Leberwurst. Mutter macht es möglich. Sie steht strahlend vor dem Weihnachtsbaum und hält uns jedem einen Teller hin mit einer ganzen Leberwurst. Große Freude. Vom Krieg spüre ich wenig, Flieger kommen. Mutter sitzt mit uns in der dunklen Stube, aus der kein Licht nach draußen fällt. Unsere Tante, Lottchen, hat Angst. Sie geht jedes Mal mit dem Kerzenleuchter in den Keller. Wir lachen sie aus. Alarm wird gegeben durch den Alarmschuss, der bei KSB losgelassen wird. Unser Dienstmädchen kommt aufgeregt zu meiner Mutter gerannt. Ich höre sie in ihrem Lothringer Dialekt sagen: „Frau Gering, es schiäßt!“ Viel lauter als die Bomben ist die Abwehr, das sind die Geschütze am Damm (damals noch Schutz gegen das Rheinhochwasser) entlang der Mörscher Straße. Großvater führt uns zu einem Bombentrichter, wohl ein Meter Durchmesser und Tiefe, sodass, wie ich sagte, „gut unseren Küchenhocker hätte hineinstellen können“. Großvater führt uns zu einem zerstörten Haus, Ecke Wormser Straße/Foltzring. Ich sehe Sparren, Holzbalken, Schutt. Verletzt wurde niemand. Ende 1918, das Rheinland wird von französischen Truppen besetzt, auch Farbige, Spahis, sind dabei. Großmutter steht am Fenster, hinter dem Vorhang, sie weint. Die französische Besatzung macht uns das Leben nicht leicht: Personalausweise, Sperrstunde am Abend. Auf dem Gehsteig müssen wir für die französische Soldaten Platz machen. Es ist davon die Rede, dass sie von der Reitpeitsche Gebrauch machen, auch im Theater, um sich in den ersten Reihen Platz zu verschaffen. Da die Friedensbedingungen 1919 sehr hart waren, kam Deutschland in Verzug mit Zahlungen, dafür kam der Bahnverkehr in französische Verwaltung. Folge: Wir fuhren nicht mehr. Wir verachteten Tante Maries Freundin, die als Postangestellte mit der Franzosenbahn zum Dienst nach Ludwigshafen fuhr. Mutter, Tante und ich gehen zu Fuß nach Oggersheim und fahren mit der „Elektrischen“ nach Mannheim: ich bekomme ein Samtkleid, ich liebe es sehr. Der Versailler Vertrag verpflichtet Deutschland zu Zahlungen und Sachleistungen nach verschiedenen Plänen (Young, Dawes) bis zum Jahr 1988! Folge: Inflation. Bei Fahrrad Gruber kostet 1922 (ich bin 13 Jahre alt) ein Fahrrad, Marke Kaiser, 200.000 Mark, ein paar Tage später schon 500.000 Mark. Meine letzte Erinnerung: ein kleiner Geldschein, aufgedruckt 1 Million, der Preis für ein Laib Brot. 1923 Ende des Spuks, die Rentenmark kommt. Tante Lottchen stört der Name, klingt nach Gebrechlichkeit, Schwäche. Alle Ersparnisse, alles Vermögen war verloren.

x