Frankenthal „Ich habe ein Versagen beobachtet“

„Die furchtbare Scham, nicht so zu sein wie die anderen“, hat Julya Rabinowich, die aus der Sowjetunion nach Wien kam, literaris
»Die furchtbare Scham, nicht so zu sein wie die anderen«, hat Julya Rabinowich, die aus der Sowjetunion nach Wien kam, literarisch in ihren Romanen verarbeitet. Am Sonntag liest sie in Frankenthal.
Frau Rabinowich, am Sonntag lesen Sie in Frankenthal aus „Dazwischen: Ich“ – Ihrem ersten Jugendroman, der vom 15-jährigen Flüchtlingsmädchen Madina erzählt. Bis dahin hatten Sie ausschließlich Erwachsenenromane verfasst. Wieso der Genrewechsel?

Ich hatte das Bedürfnis, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Außerdem war die Geschichte von Madinas Vater schon in meinem ersten Theaterstück „Tagfinsternis“ vorhanden. Dort ist sie zwar nur am Rande vorgekommen. Doch die Darstellerin von Madina hat ihre Rolle in der Uraufführung so grandios gespielt, dass ich gewusst habe, dass ich Madinas ganze Geschichte erzählen muss. Geschrieben haben Sie „Dazwischen: Ich“ bereits vor Beginn der Flüchtlingskrise 2015. Wie kam es, dass Sie ihrer Zeit voraus waren? Als ich das Buch begonnen hatte, war es noch lange nicht 2015. Damals gab es Flüchtlinge aus Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Das Buch baut auf meinen Erfahrungen auf, die ich zwischen 2006 und 2010 als Dolmetscherin für tschetschenische Folteropfer und Kriegsüberlebende in Psychotherapien gesammelt habe. Die Konfliktsituation war relativ ähnlich, die Kriegsgebiete und Kriegserfahrungen auch. Aber es war in der Intensität nicht das, was 2015 kam. Damals gab es auch noch nicht diese vielen Terroranschläge in Deutschland. Für mich war es logisch, dass auch so etwas in die Geschichte hineingehört. Wie haben Sie die Situation wahrgenommen, nachdem Ihr Buch erschienen – und 2016 von der Realität längst überholt worden war? Ich habe ein Versagen beobachtet – die massiven Flüchtlingswanderungen, als die Leute wirklich auf der Straße gelegen haben. Ich glaube aber auch, dass man sich sehr bemüht hat, mit einer Situation umzugehen, mit der man nicht viel Erfahrung hatte. Dass die Terroranschläge die Stimmung gekippt haben, ist natürlich klar. Sie haben ein Angstpotenzial erzeugt. Gleichzeitig zeigen die Statistiken: Viele Menschen bemühen sich, sich zu integrieren und Jobs zu finden. Das ist absolut ehrenwert und eine doppelte Anstrengung. Denn wer Krieg überlebt hat, der geht nicht einfach nur weiter. Der kämpft sich durch das, was er erlebt hat, und in eine neue Welt. Ich hab so viel Respekt vor jedem Menschen, der das schafft! In Ihrem Roman flüchtet Madinas Familie aus einem Kriegsland, dessen Namen man aber nie erfährt. Wieso bleibt ihre alte Heimat namenlos? Weil es ein Friedensbuch ist, ein Antikriegsbuch. Es soll die universelle Erfahrung von Krieg und Gewalt beschreiben, was sie in Familien anrichtet, wie sich das fortsetzt und wie man weiterhin darunter leidet. Man entkommt ja der Erinnerung nicht. Außer der „mitgedachten Hilfe“ von Madinas Freundin Laura und deren Mutter sowie der Schulpsychologin erfährt die Familie in Deutschland nur halbherzige, überbürokratisierte Hilfe und Ablehnung. Ist die Realität wirklich so, oder haben Sie das überspitzt? Das kann ich nicht verallgemeinern. Ich habe auch vor der Flüchtlingswelle bürokratisierte Fälle erlebt, in denen Familien auseinandergerissen wurden, in denen man nicht auf die prekäre Lage Rücksicht genommen hat. Und ich habe Richter erlebt, die engagiert waren, geholfen haben – weit mehr, als sie gemusst hätten. Als Kind sind Sie aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, nach Wien gekommen. Haben Sie für das Buch auch aus ihrer eigenen Biografie geschöpft? In diesem Buch habe ich weniger auf meine Erinnerungen gebaut, weil ich sie bereits 2008 in „Spaltkopf“, meinem ersten Roman, abgearbeitet habe. Er beschreibt den Weg der kleinen Mischka aus der damaligen Sowjetunion ins Wiener Exil. Was bei Madina und mir identisch ist, ist die Erfahrung des Spracherwerbs. Das sind die Erfahrungen jedes Flüchtlingskindes. … die „Blase der Sprachlosigkeit“, die Sie in „Dazwischen: Ich“ beschreiben? Ja, die Sprachlosigkeit. Und dieser unglaublich starke Versuch, durchzubrechen auf die andere Seite, um sich verständigen zu können. Und was bei mir so war und auch bei den Flüchtlingskindern, die ich betreut habe, das war die furchtbare Scham, nicht so zu sein wie die anderen. Mit Madina ist ihre Tante Amina geflüchtet. Sind die ähnlichen Namen absichtlich gewählt? Sie haben sehr wohl Parallelen. Beide haben dieses rebellische Wesen, das Rechte für sich einfordert. Mit dem Unterschied, dass Amina dies nur im Rahmen ihrer Tradition versucht, indem sie in der Heimat eine Liebesheirat eingeht. Als ihr Mann getötet wird, wird ihr dieses Gewaltverbrechen als Strafe für ihr Verhalten ausgelegt. „Dazwischen: Ich“ zeigt, was die Gewalt von Kriegen in Heranwachsenden anrichtet. Wie ist es mit Ihrem aktuellsten Roman „Hinter Glas“? Er porträtiert den nächsten Aspekt der Gewalt, den ich Jugendlichen nahebringen möchte: Diese Beißhemmung, die teils unter Jugendlichen fehlt. Und die Echos von Gewalterfahrungen vorheriger Generationen, die in der heutigen Generation eine neue Maschinerie von Gewalt auslösen. Gewalt unter Jugendlichen und in Familien ist leider ein aktuelles Thema. Ebenso Gewalt, die sich unüberlegt durch soziale Medien entwickelt. Termin Julya Rabinowich liest aus „Dazwischen: Ich“ am Sonntag, 17. Februar, um 17 Uhr im Lesecafé der Stadtbücherei Frankenthal, Welschgasse 11. Karten kosten acht Euro (ermäßigt fünf Euro) an der Abendkasse. | Interview: Klaudia Toussaint

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