Über den Kirchturm hinaus Welche Weisheit in Bucheckern steckt
In meiner Kindheit war ich mit meinem Opa im Herbst viel im Wald. Die Arbeit im Feld war weitgehend abgeschlossen, und Wingerte hatten wir nur zwei. Außerdem war da ja auch die Elterngeneration und vor allem: Am Sonntag wurde nicht gearbeitet. Das war eine seiner vielen Lebenserfahrungen, die er mir mit auf den Weg geben wollte. Eine andere lautete: Alles hat zwei Seiten – das habe ich oft gehört, und er erklärte es mir recht ausführlich an unserer Körpergröße: Als kleiner Junge konnte ich manches nur sehen, wenn er mich hoch auf seine Schultern setzte: Ich sehe etwas so, ein anderer hat aber seine ganz andere Wahrnehmung. Das konnte er gut auf viele Situationen übertragen – in der Großfamilie gab es dafür viele Beispiele. Er warb dafür, dass ich mir immer mal zumindest anhören sollte, was andere sagten und dachten, ich müsse ja nicht alles gleich übernehmen, aber meistens lohne es sich schon, auch die andere Seite zu hören oder zu sehen.
Lebensweisheit am Beispiel der Natur
Dann machte er unter einer Gruppe von Buchen eine Rast. Ob er das schon vorher geplant hatte, weil er wusste, wo welche Bäume gehäuft standen oder ob es ein Zufall war – ich werde es nicht ergründen können. Jedenfalls zeigte er mir Bucheckern. Ganz lebenspraktisch – wir hatten immer noch ein Pferd auf dem Bauernhof – lernte ich, dass wir Menschen wohl aus Bucheckern Öl pressen können, aber für Pferde sind sie hochgiftig. Ich dürfe weder unser, noch sonst ein Pferd je mit Bucheckern füttern. Wenn wir welche sammeln, dann nur für die Schweine. (Aha, wieder was gelernt.) Auf dem Rückweg folgte dann eine andere Weisheit: Alles hat zwei Seiten – nur die Bucheckern nicht: Die haben drei. Diesen Satz sollte ich mir einprägen, wenn ich mal nicht mehr weiter wüsste und auch keinen guten Rat von anderen bekäme.
Solche Situationen hat er mir prophezeit – nicht um mir Zukunftsangst zu machen, sondern eben die dritte Seite zu beachten: Man könne alles auch mal vom Standpunkt Gottes anschauen. Die Bucheckern mahnen uns, dass wir nicht nur unsere Ansichten austauschen, sondern auch mal eine ganz andere Perspektive einnehmen. Es gibt meine Seite und die eines anderen, mit dem ich vielleicht einen Konflikt habe und mich kräftig streite (mein Opa sagte: „zanke“), aber dann gibt es eben auch die Seite Gottes. Die kann man auch entdecken, wenn man über den Kirchturm hinaus in den Wald und unter Buchen schaut. Oft stimmt der Satz, dass alles zwei Seiten habe, nämlich nicht: Nicht nur Bucheckern haben drei Seiten, auch viele Lebensthemen. Ob Sie wohl verstehen, dass ich meinem Opa dankbar bin?
- Alois Moos ist katholischer Theologe, wohnt mit seiner Familie in Wattenheim und leitet im Bischöflichen Ordinariat Speyer die Abteilung Personalförderung.