Bad Dürkheim Das Unheil ist allgegenwärtig

Die rachedurstige Elektra, gespielt von Judith Becker, lässt sich vom mahnenden Chor kaum zurückhalten.
Die rachedurstige Elektra, gespielt von Judith Becker, lässt sich vom mahnenden Chor kaum zurückhalten.

Menschen sind zwiespältige Wesen. Sie lügen, hintergehen einander, und manchmal morden sie sogar. Zum Zeugen ihres allgegenwärtigen Unheils wird der Zuschauer in der Tragödie „Elektra“, dem neuen Winterstück des „Theaters an der Weinstraße“ (TadW). Die packende Inszenierung feierte am Samstag im Dürkheimer Haus Premiere.

„Die Lüge schadet nicht, wenn sie mir Ruhm und Vorteil bringt.“ Seit der griechische Dichter Sophokles seinen Orestes diese Worte sagen ließ, sind beinahe zweieinhalb Jahrtausende vergangen. Und doch könnte der Satz wie so viele andere aus der Gegenwart stammen. Die zeitlosen Konflikte, in die der antike Mythos die Beteiligten stürzt, bringt das TadW intensiv zum Ausdruck. Bühnenbild (Laura Dreyer) und Musik holen das Geschehen in die deutschen Jahre anarchischer Proteste und Hausbesetzungen. Mit Judith Becker erlebt das Publikum eine aufrührerische, kompromisslose Heldin. Ihre punkige Hülle passt zur inneren Dramatik, die von der erst 18-jährigen Darstellerin überzeugend gestaltet wird. Als Verzweifelte wirkt sie wahrhaft ergreifend. „Nur ich betraure dich, mein Vater“, klagt Elektra um Agamemnon, der von ihrer Mutter Klytaimestra und deren Liebhaber Aigisthos ermordet wurde. Gleichzeitig erlebt man die Trauernde erbarmungslos im Hass und Rachedurst. Mit Entschlossenheit eilt sie durch die Szenen, und wenn sie die Kulisse mit Parolen besprüht und Saalfenster vernagelt, wird die zersetzende Optik zum Sinnbild ihrer vermauerten Seele. Die Regie von Susanne Schmelcher liest den Klassiker mit viel Gespür für seine Spannung und Lebendigkeit. Dabei umschifft sie bewusst die Gefahr, die Handlung zum psychologischen Einfühlungstheater zu machen. In einer von Gewalt durchtränkten Welt geht es vielmehr um Fragen von Recht und Schuld. Fragen, die sich in der Sicht der Beteiligten unterschiedlich stellen. Stark zeigt sich die Inszenierung auch in ihren Dialogen. Das Pathos der Sprache wirkt für den modernen Hörer nicht übertrieben, im Gegenteil: Ihre empörerische Kraft gibt das Stück beeindruckend wieder. Wie in antiken Zeiten erschüttert den Zuschauer die Wucht der vernichtenden Sätze, die sich Elektra und ihre Mutter (Silke Schmidt) entgegenschleudern. Fesselnd sind auch die Auseinandersetzungen mit Chrysothemis: Mit einfühlsamem Spiel zeigt Marlena Lüneburg die Defensive der sich anpassenden Schwester. Vortrefflich wird die Rolle des Chors behandelt: Man sieht Laura Dreyer, Regina Miller, Marisa Fickeisen, Yanice Böttcher, Cora Neubauer-Pfähler und Till Bechtloff einheitlich gekleidet: Ihre Kommentare haben besonderes Gewicht, wobei der Chor bald der Heldin beipflichtet, sie dann aber warnend zur Zurückhaltung mahnt. Die Frauen Mykenes, die hier verkörpert werden, schwanken zwischen Beistand für Elektra und Ablehnung ihres Widerstands. Auch diese instabile Position und das Sich-Unterordnen verweisen in die Gegenwart. Der Gegensatz zwischen extremen Positionen und Konformismus zieht sich durch das Geschehen, bis die zweiseitige und frei im Raum stehende Tür zum entscheidenden Ort der Rache wird. Als ultimativ entschlossenen Orestes sieht man Levin Steinbach. Unterstützt vom alten Diener (Franz Leiß) vollzieht er an der Mutter und Aigisthos (Andreas Böcker) die Blutrache. Die Bühne taucht in flammendes Rot, mitten darin erblickt man eine glückstrahlende Elektra. Wie dichter Rauch schwebt die Frage im Raum, wie weit der Mensch gehen darf. Termin Weitere Vorstellungen am 30. November um 20 Uhr, 1. Dezember, 20 Uhr und 2. Dezember, 18 Uhr, Dürkheimer Haus.

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