Bad Dürkheim Auf der Suche nach der eigenen Identität

Über Rafik Schamis Roman „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ diskutiert der Kreis am 27. August.
Über Rafik Schamis Roman »Sophia oder Der Anfang aller Geschichten« diskutiert der Kreis am 27. August.

„Im Fokus steht diesmal die einzelne Persönlichkeit,“ resümiert Heitkamp-Gieseler. „Ins Leben geworfen, gestaltet der Mensch auf der Suche nach sich selbst fortan sein eigenes Leben.“ Diesen Prozess der Identitätsfindung spiegeln die ausgewählten Bücher. Obwohl Politik nicht im Vordergrund steht, sind einige Protagonisten von ihren Erfahrungen mit Krieg und Flucht geprägt. Der Kreis, der zwischen acht und 13 Teilnehmer umfasst, zeichne sich dadurch aus, dass die Mitglieder eigene Geschichte, persönliches Wissen und Erfahrungen einbringen, so Heitkamp-Gieseler. Dabei entstehe der Spagat zwischen literaturwissenschaftlicher Text-Interpretation und dem Austausch persönlicher Lebenserfahrungen. Mit dem Künstlerroman „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes startet das Programm am 23. Juli. Protagonist ist ein Mann, der im Mai 1937 jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung steht und auf den Abtransport durch den sowjetischen Geheimdienst wartet. Er steht hier, um seiner Frau den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen. Es ist kein geringerer als der berühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch, der, bei Stalin in Ungnade gefallen, mit seiner Hinrichtung rechnet. Als er der „Säuberung“ nicht zum Opfer fällt, gerät er in einen unausweichlichen Konflikt: Als Komponist lebt er vor allem für seine Musik, doch um sie zu verwirklichen, muss er Zugeständnisse an die Sowjetregierung machen. In seinem biografischen Roman thematisiert der Autor eindrücklich den Zwiespalt des Komponisten: Wie sehr darf er sich mit der totalitären Macht einlassen, und ab wann wird er selbst schuldig? Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach seinem Sprach- und Jurastudium in Oxford als Lexikograph und Journalist und seit 1980 als freier Schriftsteller. Unter dem Pseudonym Dan Kavanagh veröffentlichte er zunächst Kriminalromane. Internationalen Durchbruch erreichte er 1984 mit seinem dritten Roman „Flauberts Papagei“. Zu seinen rund zwei Dutzend Romanen gehören „England, England“ und „Vom Ende einer Geschichte“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Prix Médicis, den Booker Preis und 2016 den Siegfried-Lenz-Preis. Über Rafik Schamis Roman „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ diskutiert der Kreis am 27. August. Der weltweit erfolgreichste und berühmteste aus Syrien stammende Autor, der 1946 in Damaskus geboren wurde, vor dem Assad-Regime floh und seit 1971 in Deutschland lebt, kehrte niemals in seine alte Heimat zurück. Anders als Salman, der Protagonist seines Romans, der im Arabischen Frühling aus dem Exil nach Damaskus heimkehrt. Als er unschuldig unter Mordverdacht gerät, muss er auf der Flucht vor dem Geheimdienst des Assad-Regimes untertauchen. In dieser lebensgefährlichen Situation erhält er Hilfe von seiner Mutter Sophia. Sie hatte einst ihren Freund Karim gerettet, der ihr daraufhin versprach, ihr in Not beizustehen. Ob es ihm gelingt, Salman zu retten, schildert Schami im rasanten Tempo eines Polit-Thrillers in der ihm eigenen bildreichen Sprache. Natascha Wodins autobiografischer Roman „Sie kam aus Mariupol“ steht am 24. September im Fokus. Darin erzählt die 1945 in Fürth als Tochter sowjetischer Zwangsarbeiter geborene Autorin, die in Lagern für „Displaced Persons“ aufwuchs, in vier Teilen die tragische, mühsam recherchierte Geschichte ihrer Familie. Von ihrer Mutter, die sich 1956 das Leben nahm, wusste sie nur, dass sie 1920 im ukrainischen Mariupol zur Welt kam und 1944 als Zwangsarbeiterin nach Nazi-Deutschland geriet. Als 70-Jährige beginnt Wodin die Recherche und rekonstruiert in ihrem Tatsachenroman nicht allein die Geschichte ihrer Familie, sondern die Abgründe der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Für ihren Roman um Entwurzelung und Heimatlosigkeit erhielt sie 2015 den Alfred-Döblin-Preis und 2016 den Preis der Leipziger Buchmesse. Auch der 1975 in Rom geborene italienische Autor Andrea Bajani thematisiert in seinem Roman „Lorenzos Reise“, über den die Runde am 22. Oktober diskutiert, die Suche nach der Lebensgeschichte einer Mutter. Um dieser die letzte Ehre zu erweisen, begibt sich der Protagonist zu ihrer Beisetzung nach Bukarest. Sie hatte ihren kleinen Sohn in den Neunzigerjahren in Rom zurückgelassen, um in Rumänien mit ihrem Liebhaber eine Firma aufzubauen. Als Lorenzo erfährt, dass sie beruflich und privat gescheitert war, will er mehr über ihr Leben erfahren und stellt sich auch seiner vom Gefühl des Verlassenseins geprägten Vergangenheit. Auf einer unglaublichen, aber wahren Geschichte basiert François Gardes Roman „Was mit dem weißen Wilden geschah“, der am 26. November Thema des Gesprächskreises ist. Mit 18 Jahren wird der Matrose Narcisse Pelletier 1843 von seinem Kapitän versehentlich in Australien zurückgelassen. Bei den Aborigines findet er Unterschlupf und passt sich deren Lebensgewohnheiten völlig an. Als westliche Forscher ihn 17 Jahre später entdecken, ist er, nackt und tätowiert, total assimiliert. Octave de Vallombrun bringt den „weißen Wilden“ nach Paris zurück, um ihm sein altes Leben zu ermöglichen. Doch kann das gelingen? Wie lebt es sich mit zwei Identitäten? Den Abschluss des Halbjahresprogramms bildet Bernd Schroeders Roman „Auf Amerika“, mit dem sich die Runde am 17. Dezember beschäftigt. Der kindliche, autobiografisch gefärbte Held landet als Flüchtlingskind mit seinen Eltern in einem oberbayrischen Dorf. Dort muss er sich mit prügelnden Lehrern und Dorfgeschwätz auseinandersetzen und fühlt sich ausgeschlossen. Doch immerhin hat er einen Vertrauten, den gutmütigen Knecht Veit, einen Einzelgänger, der in Amerika lebte. Infos —Der Literaturgesprächskreis der Stadtbücherei Bad Dürkheim diskutiert am Dienstag, 23. Juli, 20 Uhr in der Römerstraße 20 über Julian Barnes’ Roman „Der Lärm der Zeit“. Teilnahmegebühr: 4 Euro —Bei einer Tasse Kaffee treffen sich die Teilnehmer im Literatur-Café der Stadtbücherei jeweils donnerstags um 10.30 Uhr. Unter dem Motto „Lesen lassen – Zuhören – Erzählen – Mitreden“ lernen sie literarische Texte kennen und diskutieren darüber unter Leitung von Dorothee Heitkamp-Gieseler. Literarische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Termine: 18. Juli, 22. August, 19. September, 17. Oktober, 21. November, 12. Dezember. Gebühr: 4 Euro.

Ihre News direkt zur Hand
Greifen Sie auf all unsere Artikel direkt über unsere neue App zu.
Via WhatsApp aktuell bleiben
x