Rheinland-Pfalz Suizid in der Zelle: Viele Fragen offen

„Auf kleinste Anzeichen achten“: Hat das die Jugendstrafanstalt in Schifferstadt im Fall Abdul D. getan? Auch Politiker stellen
»Auf kleinste Anzeichen achten«: Hat das die Jugendstrafanstalt in Schifferstadt im Fall Abdul D. getan? Auch Politiker stellen jetzt Fragen zu dem Freitod des jungen Mörders. Foto: Lenz

Der Mörder der 15-jährigen Schülerin Mia in Kandel hat sich in seiner Gefängniszelle in Schifferstadt erhängt. Das hat das Obduktionsergebnis am Freitag bestätigt. Zum Freitod von Abdul D. ist auch zu klären, ob es Versäumnisse bei der Einschätzung der Suizidgefahr gab. Ein Experte im Jugendstrafvollzug weiß, wie kritisch die Situation für Kindsmörder in der Haft sein kann.

Joachim Walter kennt die Gedanken, möglicherweise auch die Selbstvorwürfe, die einen beschäftigen, wenn sich ein Häftling das Leben genommen hat. Über 30 Jahre lang war der heutige Rechtsanwalt Leiter mehrerer Gefängnisse. Unter anderem einer der großen Jugendstrafanstalt Baden-Württembergs, der Justizvollzugsanstalt Adelsheim im Neckar-Odenwald-Kreis.

Walter, 75, hat mehrere Freitode von Häftlingen während seiner früheren Tätigkeit mitbekommen. Bei zwei Fällen, die er schildert, sei es immer wieder um „Informationsprobleme“ bei der Einschätzung der Suizidgefahr der Gefangenen gegangen. „Einmal wurde sogar einer meiner Mitarbeiter verurteilt“, sagt Walter im RHEINPFALZ-Gespräch. Dieser habe von einem Verteidiger eines Häftlings eine wichtige Nachricht erhalten, sie aber nicht weitergegeben.

Auf kleinste Kleinigkeiten achten

In einem anderen Fall habe die Polizei einen wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft sitzenden Mann mit einem zweiten Mordvorwurf konfrontiert. Am nächsten Tag war der Verdächtige tot. „Der hat seine Konsequenzen gezogen.“ Hinterher habe sich herausgestellt, dass er sogar drei Morde auf dem Gewissen gehabt habe. Die Anstaltsleitung habe von den neuen Vorwürfen gegen den Häftling jedoch nichts gewusst. Wieder hat es an der richtigen Kommunikation gemangelt.

Walter kehrt immer wieder zu der für ihn alles entscheidenden Frage zurück: Gibt es Anzeichen dafür, dass sich ein Gefangener töten will? Schätzen die Beamten, Psychologen und Sozialarbeiter im Gefängnis die Person, ihre Äußerungen, ihr Verhalten unter medizinisch-psychiatrischen Aspekten richtig ein? „Man muss auf kleinste Kleinigkeiten achten.“

Ermittler versuchen Todesumstände zu klären

Der Experte im Jugendstrafvollzug kennt den Fall Abdul D., der kurz nach Weihnachten 2017 in Kandel aus Eifersucht seine 15-jährige Ex-Freundin erstochen und dafür nach Jugendstrafrecht zu achteinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, nur aus den Medien. Er maßt sich deshalb kein Urteil an, noch erhebt er Vorwürfe gegen die Jugendstrafanstalt Schifferstadt, in der der junge Mörder bis zu seinem Freitod einsaß. Aber Walter stellt kritische Fragen.

Abdul D. war 2016 als Minderjähriger zusammen mit einem Verwandten aus Afghanistan nach Deutschland, dann in den Kreis Germersheim, gekommen. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, seine Lese- und Schreibkompetenz beurteilt das rheinland-pfälzische Justizministerium aktuell als „gering ausgeprägt“. Die Staatsanwaltschaft beschreibt den Afghanen als einen, der Konflikte mitunter „gewaltsam lösen wollte“. Während seines Prozesses war er auch auf Beamte losgegangen. Von dem letzten Streit mit einem Mit-Insassen hatte er blaue Flecke. Die Frankenthaler Ermittler versuchen die Todesumstände von Abdul D. zu klären.

Jugendknast als „Kindergarten“ empfunden

Der junge Mann wurde, wie berichtet, am Donnerstag um 6 Uhr erhängt an einem Kopfkissenbezug und Schnürsenkeln in seiner Zelle gefunden. Schon während der Untersuchungshaft hatte er sich mit einer Einwegrasierklinge an der Brust verletzt. Vorübergehend stand er deshalb unter besonderer Beobachtung. Aktuell galt er der Staatsanwaltschaft zufolge nicht als gefährdet, seinem Leben ein Ende setzen zu wollen. Wie sehr der junge Mann unter psychischem Druck stand – das vermochten die Ermittler am Freitag nicht einzuschätzen. Fakt ist, dass er sich in eine Haftanstalt für Erwachsene verlegen lassen wollte, wie Leitender Oberstaatsanwalt Hubert Ströber sagte. Den Jugendknast habe er als „Kindergarten“ empfunden.

Strafrechtsexperte Walter weiß, dass gerade Kinderschänder, aber auch Kindsmörder „einen ganz schweren Stand“ in Haft haben. „Die sind ganz unten in der Hierarchie.“ Insassen hätten da ihre Mittel: etwa ständige Faustschläge oder Fußtritte an die Zellentür. „So etwas hält man schlecht aus, ist aber auch durch Personal nicht zu verhindern.“ Abdul D. könnte seiner Meinung nach auch als „Promi-Häftling“ unter besonderem Druck gestanden haben. Wurde er gemobbt? Waren rechte Ansichten von den Demos auf Kandeler Straßen hinter die Gefängnismauern gelangt? Hat jemals ein Kinderpsychologe mit ihm gesprochen? Ein Gutachten hatte den Täter, der sich stets jünger ausgab, zum Tatzeitpunkt auf 17,5 Jahre geschätzt. Hat man in Schifferstadt versucht, ihm Gespräche trotz seiner ablehnenden Haltung dazu anzubieten – mit dem Ziel, nach Selbsttötungs-Potenzial zu suchen? Oder hat man die Flinte ins Korn geworfen, weil der Afghane womöglich nach ein paar Jahren Gefängnis an den Hindukusch abgeschoben worden wäre?

Fragen über Fragen. Das Justizministerium in Mainz gab darauf am Freitagmittag keine Antworten. Auch die Leitung der Jugendstrafanstalt Schifferstadt schweigt. Am Donnerstag, 14.30 Uhr, wird sich Justizminister Herbert Mertin (FDP) Fragen stellen müssen: Auf Antrag der Regierungsparteien und mit Zustimmung der CDU ist das Thema Freitod von Abdul D. jetzt auf der Tagesordnung des Rechtsausschusses am Landtag.

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