Rheinland-Pfalz "Schwimmenlernen darf nicht vom Geld der Eltern abhängen"

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Er geht so schnell nicht unter: Landessportbund-Präsident Lutz Thieme ist begeisterter Wasserballer. Er will, dass möglichst viele Kinder sichere Schwimmer sind.

Unterrichtsausfall an Schulen ist immer wieder ein Aufreger. Wenn es dabei ums Schwimmen geht, hält sich die Empörung offenbar in Grenzen. Wie berichtet, gibt es im Schulaufsichtsbezirk Neustadt, zu dem weite Teile der Pfalz gehören, an 44 Prozent der 409 Grundschulen keinen Schwimmunterricht – obwohl er als Teil der Sportstunden auf dem Lehrplan steht. Wir haben mit dem Präsidenten des Landessportbunds, Lutz Thieme (51), übers Schwimmen, Badetote und die Pflichten der Landesregierung gesprochen.

Herr Thieme, Sie sind selbst Leistungsschwimmer gewesen. Wann haben Sie schwimmen gelernt?

Mit fünf, sechs Jahren in Weimar. Weil ich später bei einer Talentsichtung durch meine Größe aufgefallen bin, war es gleich um mich geschehen, ich kam zum Leistungssport. Sie sind in der DDR aufgewachsen. War das gleich mit Leistungsdruck verbunden? Nicht gleich. Aber in der vierten Klasse hatte ich täglich eineinhalb Stunden Training. Später trainierten wir bis zu drei Mal täglich und schwammen die Woche 100 Kilometer. Das war ein ziemlich großer Druck. Ich konnte den ziemlich lange aushalten. Als Leistungssportler gab es ja das Privileg, mal in den Westen zu Wettkämpfen und auf alle Fälle Abitur machen zu können. Der Wunsch-Studienplatz war so gut wie sicher. Können Sie sich an Ihre Bestzeit erinnern? (lacht) Nein. Meine beste Platzierung war eine Finalteilnahme bei den DDR-Meisterschaften der Erwachsenen im Brustschwimmen. 2005 oder 2006 bin ich mal Dritter über 50 Meter Rücken bei den deutschen Masters-Meisterschaften geworden. Ich war nicht schlecht, aber auch nicht richtig gut. Ist Schwimmen lernen heute noch so selbstverständlich wie früher? Früher war Schwimmen eine wichtige Kulturtechnik. In den 1960er- bis 1980er-Jahren entstand vor allem im Westen eine gute Bäderlandschaft. Schwimmen stand im Mittelpunkt bei Infrastrukturprojekten im Sport, auch an Schulen. Das kann ich so nicht mehr erkennen. Wie wichtig ist Schwimmen? Einmal ist es eine Technik zur Selbstrettung. Zum anderen, und das ist fast noch wichtiger, ein Mittel zur Teilhabe an der Gesellschaft. Alles was im, am und unter Wasser stattfindet, bleibt dem Nichtschwimmer verwehrt. Laut einer von der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) beauftragten Forsa-Umfrage von 2017 sind 59 Prozent der Zehnjährigen keine sicheren Schwimmer. Wann ist man ein sicherer Schwimmer? Das ist ja schon Teil des Problems, jeder definiert die Fähigkeit anders – DLRG, Vereine, Schwimmverbände, Schulen. Auch fehlen valide Zahlen. Und Eltern heute beurteilen das Können ihrer Kinder anders als Eltern früher. Für Ingelheim und Bingen bereiten wir einen runden Tisch vor, um mal auf lokaler Ebene eine abgestimmte Messlatte zu schaffen. Wie gefährlich ist es, nicht schwimmen zu können? Tödliche Unfälle rütteln derzeit die Gesellschaft auf. Jedoch sollten wir die Badetoten nicht unmittelbar mit zu wenig Schwimmunterricht in Verbindung bringen. Das greift zu kurz. Bei den aktuellen Todesfällen geht es eher um Männer, die sich überschätzen, oder bei Flüchtlingen um eine andere Kultur, daraus resultierende geringere Schwimmfähigkeiten und fehlende Erfahrung mit Wasser. Hätten die afghanischen Mädchen im Rhein ein Seepferdchen-Abzeichen gehabt – sie wären vermutlich trotzdem untergegangen. Trotzdem. Es gibt in Teilen von Rheinland-Pfalz an fast 50 Prozent der Grundschulen keinen Schwimmunterricht. Einen Ländervergleich dazu gibt es nicht. In Hessen etwa werden diese Zahlen gar nicht abgefragt, Baden-Württemberg will dieses Schuljahr damit anfangen... ... Ja, es fehlen Zahlen. Wir wissen noch nicht einmal, wo es wie viele Nichtschwimmer an den Schulen gibt. Der Ausfall von Schwimmunterricht ist aber nur ein Indiz, ob Kinder schwimmen können. Das Problem hat viele Faktoren. Welche? Warum passiert nichts? Würde an Grundschulen landesweit 50 Prozent Matheunterricht ausfallen, wäre der Aufschrei groß. Schwimmkurse aber kann sich die bildungsorientierte Mittelschicht trotzdem leisten, die wirklich Betroffenen mischen sich weniger ein, haben kein Sprachrohr und verkennen die Bedeutung des Schwimmens. Dazu kommt, dass Bäder mit die teuerste Infrastruktur im Sport sind. Die Kommunen, die dafür zuständig sind, müssen innerhalb ihrer freiwilligen Aufgaben Prioritäten setzen. Aber als Entscheidungsgrundlage fehlen Zahlen. Die letzte deutschlandweite Bäderstatistik stammt aus dem Jahr 2000. Die Frage ist, wer nimmt sich des Themas an. Und wer hat Schuld? Das Land, das Schwimmen auf dem Lehrplan hat, die Eltern, die Kommunen? Das ist schwierig. Das ist nichts, was sich ein Ministerium stabsplanmäßig ausdenken kann. Das muss auch vor Ort geregelt werden. Schwimmenlernen darf nicht vom Geldbeutel der Eltern oder dem Wohnort abhängig sein. Ich mag aber auch nicht, dass der Schwarze Peter hin- und hergeschoben wird. Das Versprechen des Landes, dass Kinder schwimmen können sollen, muss es entweder einlösen oder streichen. Für den Schwimmunterricht also Note mangelhaft? (lacht) Ich möchte das differenzieren. Ohne die vielen engagierten Menschen, die Schwimmunterricht geben, ehren- oder hauptamtlich, würde es noch schlimmer aussehen. Wir müssen ran an Struktur, Information und Transparenz. Andererseits bin ich kein Kulturpessimist. Wenn unsere Gesellschaft jedoch akzeptiert, dass Schwimmen immer weniger wichtig wird – dann ist das eben Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse. Zur Person Lutz Thieme, Präsident des Landessportbunds Rheinland-Pfalz, ist Sportwissenschaftler und hat eine Professur für Sportmanagement an der Hochschule Koblenz. Der 1,90-Meter-Mann spielt in der Freizeit Wasserball bei den Schwimm- und Sportfreunden Bonn – oder wie er sagt „in der 5. Liga“. Er wohnt im nordrhein-westfälischen Wachtberg.

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