Kultur Mythos Alltag: Kaugummiautomaten

Der Putz bröckelt: Es ist trist geworden in den Straßen, in denen heute noch Kaugummiautomaten hängen.
Der Putz bröckelt: Es ist trist geworden in den Straßen, in denen heute noch Kaugummiautomaten hängen.

Kann alles Mythos werden? „Ich glaube ja, denn das Universum ist unendlich suggestiv“, schrieb Roland Barthes in seinem Werk „Mythen des Alltags“, in dem etwa ein Citroën DS als „Kathedrale der Neuzeit“ gewürdigt wird. Das war 1957. Durchaus denkbar, dass die Jetztzeit ähnlich geheimnisvoll ist. In loser Folge begeben wir uns auf Spurensuche. Heute: der Kaugummiautomat.

Das große Glück war eigentlich nur einen Dreh entfernt. Und vielleicht 20 Pfennige weit weg. Hinter einer manchmal von einem kleinen Metalgitter geschützten Plastikscheibe lockte das Mini-Taschenmesser. Den Ring, von dem wir glaubten, er sei tatsächlich wertvoll, hatte in der Woche zuvor der Banknachbar in der Grundschule gezogen. Um ihn dann auf dem Schulhof weiterzureichen. Großer Auftritt das.

Klacken im Ausgabefach

Aber lieber ein Taschenmesser. Männersache eben. 20 Pfennige rein, Drehung nach rechts, Klacken im Ausgabefach. Und dann das enttäuschte Gesicht, wenn in der Plastikkugel statt irgendwelcher großspuriger Gimmicks nur stahlharte Kaugummikugeln waren, die sich erst mit Speichel gemischt ihren Namen verdienten. Man konnte sie kauen, sich vielleicht auch die eine oder andere Plombe damit ziehen. Und nach spätestens zehn, 15 Minuten war alles vorbei. Und das Mini-Taschenmesser blieb eine unerfüllte Sehnsucht.

Kandierten Erdnüssen gewidmet

Die roten Automaten, die immer auf Kinderaugenhöhe angebracht waren und oft gleich in ganzen Dreierbatterien ihren Auftritt hatten – ein Automat war dabei stets jenen roten, kandierten, zuckersüßen Erdnüssen gewidmet –, diese Lockvögel, in denen nicht selten das komplette Taschengeld eines Schülers verschwand, waren stets strategisch geschickt platziert: dort, wo Kinder vorbeikommen mussten. Am besten alleine, also in der Nähe von Schulen. Auch Kindergärten waren (und sind) im Radar der Automatenaufsteller. Dann aber musste meist die Mutter von dem Inhalt überzeugt werden.

Geld gegen Ware

Für manche Schüler aber war es der erste komplett selbstständige Deal ihres Lebens. Tausche Geld gegen Ware. Einsatz variabel. Zehn, 20, 50 Pfennige. Die Luxusvariante, gleichsam die Nobelkarosse unter den Kaugummiautomaten, kostete eine Mark. Fantasiesummen, wie sie aktuell nur im Fußballgeschäft bezahlt werden. Die Ein-Euro-Obergrenze wird auch heute noch nur sehr selten überschritten, sodass die Automaten doch eigentlich die ideale Ergänzung für die Angebote der Ein-Euro-Läden sein könnten. Das Sortiment dürfte einige Schnittmengen haben.

China-Böller im Ausgabefach

Es gibt sie noch immer. Mittlerweile nicht selten in den städtischen Schmuddelecken. Oder auf verlassenen Dorfstraßen. Als hätte sie da jemand vergessen, winken sie aus einer besseren Zeit des eigenen Kindheitsparadieses herüber. Der Putz an der Hausfassade blättert ab, der rote Automat mit Drehverschluss ist oft auch nicht mehr im besten Zustand. Zielscheibe von Vandalismus ja schon immer. Löcher werden in die Plastikscheibe gebrannt. Besonders beliebt: der China-Böller Größe Kanonenschlag wird an Silvester in das Ausgabefach gelegt. So wurde von Jugendlichen ein Sehnsuchtsort der eigenen Kindheit zerstört.

Die Masse macht's

Die Zahlen, die der Dachverband der Warenautomatenaufsteller bekannt gibt, sind nicht so ganz eindeutig. Von 500.000 bis 800.000 Kaugummiautomaten spricht der im thüringischen Gera ansässige Verband, der auch für Kondom- und Zigarettenautomaten zuständig ist. Umsatzzahlen sind noch schwieriger zu bekommen. Fakt ist wohl: Die Masse macht’s. Nur wer genügend Automaten aufstellen kann, kann davon einigermaßen leben. Wie lange sie noch ihr Dasein fristen, sei mal dahingestellt. In Zeiten, in denen Plastikspielzeug, das wahrscheinlich in Taiwan oder in einem Billiglohnland wie Bangladesch hergestellt wurde, Kinderaugen nicht mehr wirklich zum Glänzen bringen kann. Die sind von Gameboy und Handy ja auch viel zu abgeklärt geworden, um noch auf das große Kaugummiautomatenglück zu hoffen.

Über die USA nach Deutschland

Seit etwa 60 Jahren hängen sie in Deutschland rum, nach dem Krieg kamen sie über die USA und auch über Belgien zu uns. Heute wirken sie nicht selten wie Fremdkörper, wie Embleme eines vergangenen Jahrtausends, in dem auch die Zigarettenautomaten noch nicht durch Zugangssperren gesichert waren.

24 Stunden geöffnet

Beide waren sie für ihre unterschiedliche Klientel da. Rund um die Uhr. 24 Stunden am Tag geöffnet, bei immer gleichbleibendem Angebot. Eine verlässliche Größe. Und wenn es tatsächlich mal etwas Neues hinter der Scheibe gab, dann war das das große Ding auf dem Weg zur Schule. Wenn man dann kein Geld dabei hatte, war der Tag ein gebrauchter.

Ein unerfüllter Kindheitstraum

Der Glücksdreh für zehn Pfennige war so etwas wie das vorweggenommene Überraschungsei. Man wusste ja bei dem Ei nie, was man bekommen würde, schüttelte, rüttelte, um herauszufinden, ob es sich um eine komplette Figur handelte oder aber um ein Spielzeug, das erst noch zusammengebaut werden musste. Der Kaugummiautomat war da ungleich grausamer. Er hielt einem das Objekt der Begierde sprichwörtlich unter die Nase. Und spuckte es doch nie, wirklich niemals aus. Das Taschenmesser. Eben ein unerfüllter Kindheitstraum.

x