Rheinland-Pfalz Gerettete Rehkitze: "Sie fangen an zu bocken"

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Die Rehkitze bekommen alle zwei Stunden die Milchflasche. Noch drei Monate lang werden sie so ernährt.

Ihr Schicksal geht den Pfälzern ans Herz: Per Sturzgeburt wurden vor zehn Tagen drei Rehkitze auf die Welt geschleudert, als bei Speyer das Muttertier von einem Auto angefahren und getötet wurde. In einem Wildpark werden die drei kleinen Bambis jetzt aufgepäppelt. Doch haben sie eine Überlebenschance?

Die Wände im Wohnzimmer sind tapeziert mit Tierpostern: Hunde, Katzen, Rehe. Hier müssen Tierliebhaber leben. Tatsächlich. Mitten drin in dem Haus: die drei Rehkitze, die am Morgen des 13. Mai bei Speyer unter dramatischen und traurigen Umständen auf die Welt gekommen sind. Der Bauch des Muttertiers wurde bei dem Zusammenprall mit dem Auto aufgerissen, die Nabenschnur abgerissen, die Kitze teils auf die Fahrbahn geschleudert – doch sie wurden gerettet. Heute trinken sie Milch aus der Flasche und werden fleißig massiert – gegen Verstopfungen. Wildtierretter Michael Sehr brachte die Kitze – zwei männliche, ein weibliches – nach dem Unfall von Speyer in die Wildtierunterkunft von Ilka Pissin (40) und David Schmidt (41) ins hessische Hünfelden. Zusammen mit ihrem elf Jahre alten Sohn Max kümmern die beiden sich nicht nur um die drei Tierbabys, sondern aktuell um 25 andere Wildtiere. Übers Jahr pflegen sie rund 300 Wildtiere, die danach wieder zurück in die Natur können. Die 150 Kilometer nördlich von Speyer gelegene Wildtierstation ist eine der wenigen Orte mit einer Genehmigung zur Pflege von Rehen, weshalb die kleinen Speyerer Bambis hier am Tag eins ihres Lebens landeten. Kuschelig saßen sie auf der Fahrt auf der Rückbank von Sehrs Wagen – eingehüllt in ein rosafarbenes Handtuch.

Baby-Laufstall statt Waldboden

Die drei Kitze haben in Hünfelden das ganze Dachgeschoss für sich. Statt Waldboden haben sie übereinander gestapelte Decken als Unterlage und einen vier Meter langen Baby-Laufstall. Zweige mit grünen Blättern sorgen für ein bisschen Natur. Gleich ist wieder Fütterungszeit für die Jungtiere aus Speyer. Ilka Pissin steigt in den Laufstall, holt vorsichtig die in einer Art Babybett liegenden Kitze zu sich und gibt einem von ihnen die Milchflasche. Gleichzeitig massiert sie mit der anderen Hand dessen Rücken. Das sei nötig, sagt die 40-Jährige, damit die Verdauung besser klappt. „Den Kitzen geht es gut. Sie entwickeln sich so, wie es sein sollte“, berichtet die Tierfreundin. Und: „Sie liegen viel rum oder schlafen. Das, was sie auch in der Natur machen würden.“ Doch nicht nur das. „Sie springen aber auch herum und fangen an zu bocken.“ Mit anderen Worten: Sie tun nicht nur das, was sie tun sollen, sondern versuchen schon, ihren Kopf durchzusetzen.

Bis zu 10.000 Euro Kosten pro Jahr

David Schmidt und Ilka Pissin sind keine hauptberuflichen Tierpfleger. Er arbeitet als Account-Manager für Telekom in Frankfurt – mit Heimarbeitsplatz –, sie ist Physiotherapeutin für Mensch und Tier mit eigener Praxis. Mit einem Eichhörnchen-Baby fing vor 15 Jahren alles an. Eine ihrer Therapie-Patientinnen brachte Ilka Pissin damals das Tierbaby, das sie gefunden hatte. Pissin päppelte es auf – und mit der Zeit wurden es immer mehr Tiere. Heute nehmen die beiden Greifvögel und auch größere Säugetiere auf – mit Ausnahme von Wildschweinen und Waschbären. Bei diesen beiden Tierarten sei die Auswilderung schwierig, wenn sie einmal an Menschen gewöhnt und zahm geworden seien, sagt Schmidt. Die Eheleute engagieren sich ehrenamtlich für Tiere, bis zu 10.000 Euro geben sie jährlich für ihr Hobby aus. Als sie merkten, dass sie an ihre finanziellen Grenzen stoßen, gründeten sie 2016 den Verein „Wildtierstation Hünfelden“ und sammeln seitdem Spenden. Im Moment halten sich die Ausgaben und die eingenommenen Spenden die Waage, meint Schmidt: „Wobei das Geld nicht immer ausreicht.“

Unschlüssig, ob die Kitze Namen bekommen

Die drei Speyerer Kitze haben bei Ilka Pissin und David Schmidt noch keine Namen. Die beiden wollen damit noch eine Woche warten. Erst sollen alle drei wirklich durchkommen. Ob sie ihnen letztlich überhaupt einen Namen geben, wissen die beiden noch nicht. „Wenn wir das tun, wird die Bindung stärker; und dann wird aber auch die Trennung von ihnen bei der Auswilderung schwieriger“, weiß Schmidt. Die drei Kitze sollen noch ein bis zwei Wochen im Haus bleiben. Danach soll es in den Stall gehen. Bei gutem Wetter dürfen sie auch in den Garten. Etwa im August werden sie auf die Wiese geführt. Pissin und Schmidt planen, die drei Kitze dann im nächsten Frühjahr auszuwildern. Dafür haben sie zehn Außengehege für die Vorbereitungszeit. Aber werden die Rehe sich in der freien Natur zurechtfinden, nach einer so langen Zeit bei Menschen? „Rehe sind Fluchttiere. Bei ihnen geht die Auswilderung sehr schnell“, sagt Ilka Pissin. Die jungen Tiere werden dann in den Wäldern im Taunus rund um die Ortschaft eine neue Heimat finden, ist sie sich sicher. Rehe gelten als standorttreu. Dann werden sie sich auch nicht mehr an ihre Pflegeeltern erinnern, meinen die zwei Tierfreunde. „Wenn man alles richtig macht, vergessen sie einen schnell“, sagt die Physiotherapeutin, während sie jetzt die Milchflasche dem zweiten Kitz hinhält und anfängt, mit der anderen Hand den Rücken zu massieren. Der besseren Verdauung wegen. Das Kitz saugt genüsslich.

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