JubiläumsKalender Wirkmächtige Anklage: „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn

Alexander Solschenizyn (links) mit Heinrich Böll.
Alexander Solschenizyn (links) mit Heinrich Böll.

Zehn Jahre arbeitete Alexander Solschenizyn im Geheimen an seinem Monumentalwerk „Archipel Gulag“. Menschen in Russland riskierten den Tod, um das Manuskript zu lesen, das am 28. Dezember 1973 in Paris erschien. Auf Russisch. Heute ist die aufwühlende Anklage gegen das stalinistische Terrorsystem ausgerechnet dank Wladimir Putin Schullektüre.

Es ist eines der einflussreichsten Bücher der neueren Literaturhistorie. Ein Hauptwerk der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts sowieso. Die über 1800-seitige, dichterische Monumentalanklage gegen den stalinistischen Massenterror und das Lagersystem. „Archipel Gulag“ habe den „Euro-Kommunismus zerstört“, heißt es in Viktor Jerofejews Nachruf auf den Autor Alexander Issajewitch Solschenizyn. Er meint: Durch Desillusionierung. Ideell war das Buch, das das Totgeschwiegene benannte, ein ultimativer Schlag.

So sehr, dass sogar der hartleibige kommunistische Parteigänger Jean-Paul Sartre irgendwann bitter eingestand: „Es gibt keinen Sozialismus, wenn jeder zwanzigste Bürger im Lager sitzt.“ In der DDR blieb „Archipel Gulag“, dessen erster Teil 1973 in Paris erschien, verboten. In Russland kam es 17 Jahre später heraus. Ein Hauptgrund für seine Wirkmacht: Solschenizyn wusste, wovon er in hohem Ton und mit nüchternen Fakten berichtete. Er schrieb aus erster Hand. Den Gulag – die Abkürzung steht für die Lager-Hauptverwaltung Glawnoje Uprawlenije Lagerej – hat er selbst erlitten.

Verhängnisvoller Brief

Acht Jahre saß der 1918 in Kislowodsk in der Region Stawropol geborene Ex-Physiklehrer ein. Er musste unter anderem in einer Gießerei arbeiten. Bis 1953. Anlass: Solschenizyn hatte in einem Brief an einen Freund Kritik an Stalin geübt. Mitten im Fronteinsatz im Zweiten Weltkrieg, im Februar 1945, wurde der hochdekorierte Hauptmann, ein Kriegsheld, verhaftet. Und interniert. Als er freikam, begann Solschenizyn, seine Erfahrungen schriftstellerisch zu verarbeiten. Die Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ durfte sogar erscheinen. Mit Erlaubnis von Chruschtschow. 1962, in einer kurzen Phase des Tauwetters. Die Geschichte über die „geglückten 24 Stunden eines Lagerinsassen“ verkaufte sich gleich hunderttausendfach. Es sollte allerdings Solschenizyns einzige offizielle Veröffentlichung in der Sowjetunion bleiben.

Die Kehrseite des Ruhms war: Fortan wurde er Staatsfeind Nummer eins des Regimes. Autor gegen Autokratie, das war die Konstellation. Unbeugsam schrieb er, verfemt, bespitzelt und überwacht vom KGB im Geheimen weiter, versteckte seine Manuskripte. Sie zirkulierten klandestin. Auch der dantesk betitelte Roman „Der erste Kreis der Hölle“, für den Solschenizyn 1970 den Literatur-Nobelpreis bekam. Er durfte nur im Westen erscheinen. Auch dieses Buch ist ein autobiografisch beglaubigter Bericht aus einem Lager für dissidente Wissenschaftler und Ingenieure. Nach Stockholm, um die höchste Auszeichnung entgegenzunehmen, reiste er – aus begründeter Angst, nicht mehr zurückkehren zu können – erst gar nicht erst an.

Ein Anschlag des KGB

Was damals kaum jemand wissen konnte: Die Veröffentlichung seines Hauptwerks stand erst noch an. Kurze Zeit nach dem Nobelpreis-Triumph jedenfalls wurde er bei einem Anschlag des KGB vergiftet. Mit Rizin. Monatelang laborierte er an den Folgen. Und dennoch: Der „mutigste Schriftsteller Russlands“ hörte nicht auf.

Seit den 1950ern hatte Solschenizyn zehn Jahre lang insgeheim an jenem einzigartigen Werk gesessen, für das ihn jeder kennt. „Archipel Gulag“, der Titel ist eine Anspielung auf Anton Tschechows Werk „Die Insel Sachalin“, in dem es um Zwangsarbeit und Verbannung im Zarismus geht, erzählt mit der Dringlichkeit eines Gedächtnishüters aus dem Inneren des Sowjetsystems. Ein Text zwischen Sachbuch und Poesie, Geschichtswissenschaft und Pamphlet, Augenzeugenbericht und Introspektion, Autobiografie und Anklageschrift, gewidmet „all jenen, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen“.

Im Westen eine Sensation

Solschenizyn spottet darin, er schwärmt, hasst, ist einfühlsam und moralinsauer, wechselt abrupt die Perspektiven und vom Erzählerischen zur Reflexion. Er türmt Preziosen und Porträts auf. Pure Sprachgewalt trifft auf erschütternde Fakten. Dazu sind die Erinnerungen von 227 Lagerhäftlingen aus den Jahren 1918 bis 1956 eingebaut, deren Leidensweg Solschenizyn genauestens verortet. All die Grausamkeiten. Der Stumpfsinn, der Aufstand der Todgeweihten in Sibirien. Enzyklopädisch dividiert Solschenizyn die historische Schuld der Stalinisten auseinander. Auch wie die Zwangsarbeiter als Billigstarbeitskräfte für Wirtschaftsprojekte eingesetzt wurden. Im Westen jedenfalls war das Werk eine Sensation, das zwischen 1973 und 1976 in drei Bänden erschien, 1985 dann noch in einer gestrafften Version. In der Sowjetunion war es schon vor dem Druck als das „gefährlichste Manuskript“ der Welt herumgereicht worden.

Menschen starben dafür, „Archipel Gulag“ zu lesen oder wurden verhaftet. Im August 1973 reichte eine Bekannte Teile davon an den KGB weiter. Solschenizyn wies den russischen Emigrantenverlag YMCA-Press, der eine Kopie besaß, daraufhin an, es sofort zu drucken. Am 28. Dezember erschien in Paris Band 1 von „Archipel Gulag“ auf Russisch. Bald danach im Scherz-Verlag auch auf Deutsch.

Im Exil

Kurze Zeit später, am 14. Februar 1974, wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen, die KGB-Informantin beging Suizid. Nach einer Zwischenstation bei seinem Kölner Literaturnobelpreiskollegen Heinrich Böll reiste er im Zug nach Zürich weiter. Seine Ankunft dort, mit dem Schnellzug aus Basel, war ein zwiespältiger Triumph. Solschenizyn saß im letzten Wagen, von Polizisten vor dem Rudel Journalisten im Wagen davor beschützt. 3000 Menschen erwarteten den Dichter im Hauptbahnhof. Es heißt, es habe eine Begeisterung kurz vor der Hysterie geherrscht. Der Zürcher „Tages-Anzeiger“ schrieb, der Russe habe an diesem Tag „den ersten Kreis der Hölle der schweizerischen und westlichen Publizität“ betreten. In einem schwarzen Mercedes fuhr er davon. Die Polizei hatte Mühe, ihm einen Weg zu bahnen.

Drei Jahre lang lebte Solschenizyn in der Schweiz. Weitere 17 Jahre in Vermont, USA. Erst 1994 kehrte der stolze Russe in seine Heimat zurück. Wieder zu Hause – aber im Perestroika-Russland plötzlich – wurde er das „Gewissen der Nation“. Und für manche zur moralischen Enttäuschung. Kein Wort kam von ihm beispielsweise zu Tschetschenien. Es schien als fremdele er mit dem Westen, liberalistische Ideen lehnte er schlichtweg ab. Stattdessen träumte er sich zurück ins 19. Jahrhundert. Sein letztes, der Geschichte des „jüdischen Volkes“ in Russland gewidmetes Buch „200 Jahre gemeinsam“ lässt sich auch antisemitisch lesen in seiner Betonung der dominanten Rolle der Juden in der russischen Revolution.

Freund Putin

Seltsam auch, dass Wladimir Putin so etwas wie sein Freund wurde. Ein ehemaliger KGB-Mann ausgerechnet. „Er hat keinerlei persönlichen Hunger nach Macht“, schrieb Solschenizyn über ihn. Putin seinerseits sorgte, damals Russlands Ministerpräsident, für Solschenizyns Nachleben. 2009, ein Jahr nach dem Alexander Solschenizyn gestorben war, wurde „Archipel Gulag“ in Russland als Schullektüre eingeführt.

 

DER KALENDER

DIE RHEINPFALZ feiert 2020 ihren 75. Geburtstag. In unserem Jubiläumskalender erinnern wir an ein besonderes Ereignis aus den vergangenen 75 Jahren.

 

Alexander Solschenizyn im Straflager.
Alexander Solschenizyn im Straflager.
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