Lyrik Trostgedicht: W.S. Mervin befreit den Planeten Erde aus einem Spinnennetz

erde

Das unvermeidliche Leichtsein

Von W. S. Mervin

Die Straßen und alles, was auf ihnen liegt, fliegen hoch und lösen sich auf /

ein Netz steigt auf von der Welt

das Spinnennetz, in dem sie dabei war zu sterben

und die Erde atmet nackt mit ihren frischen Narben

und überall Himmel

W.S. Merwin, Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Martina Weber

Das Cover des 1988 erschienenen Gedichtbandes „The Rain in the Trees“ (Der Regen in den Bäumen), in dem dieses Gedicht erschien, zeigt einen exotischen Wald mit silbrig glänzenden Stämmen aus einem Nationalpark auf Hawaii. Der in New York City geborene William Stanley Merwin (1927-2019), der seine Vornamen für Publikationen abkürzte, war nach der Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus Ende der 70er Jahre auf die Hawaii-Insel Maui gezogen, wo er bis zu seinem Tod blieb. Er lebte mit seiner Frau auf einer ehemaligen Ananasplantage und forstete den ausgelaugten Boden mit indigenen Palmenarten auf, wodurch es ihm gelang, das Klima um zweieinhalb Grad zu kühlen.

In seinen frühen Gedichtbänden beschäftigte sich Merwin meist mit einer Reflexion seiner Lebenssituation, wobei der Zugang mysteriös, mythisch, magisch und meist düster war. In den späten Gedichtbänden überwogen die Lebenserinnerungen. Immer jedoch waren Landschaft und Natur zentrale Themen. „Das unvermeidliche Leichtsein“ ist eines der wenigen Gedichte, die ganz ohne Menschen auskommen. Es beschreibt ein surreales, postapokalyptisches und vielfach interpretierbares Bild: In einem enormen Kraftakt befreit sich der Planet Erde aus einem Spinnennetz, in dem er gefangen war, durch eine Ausdehnung der Erdkruste. Von Menschen Gemachtes löst sich auf. Die Erde hat zwar Narben davongetragen (und sie wird dadurch personifiziert), aber es schimmert eine neue Chance durch unter einem Himmel, der im Schlussbild vollkommen präsent und unendlich ist. Alles ist offen. Merwin gelingt es, mit diesem Gedicht, in nur fünf Zeilen eine starke Stimmung zu erzeugen, die zwischen Schwermut und Leichtigkeit changiert.

Zur Autorin

Martina Weber, 1966 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt am Main. 2019 erschien von ihr der Gedichtband „Häuser, komplett aus Licht“, Poetenladen Verlag, Leipzig.
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