Filmfestspiele Cannes Schlafen kann ich, wenn ich tot bin

Guckt auch schon müde: Jury-Präsident Spike Lee auf dem Festivalpalakat 2021.
Guckt auch schon müde: Jury-Präsident Spike Lee auf dem Festivalpalakat 2021.

Wann und ob er überhaupt nachts ins Bett ging, weiß ich nicht. Aber der schöne Ausspruch „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“ passte gut zu dem eifrigsten und besten deutschen Filmregisseur der Nachkriegszeit: Rainer Werner Fassbinder (1945-1982). Er war auch in Cannes, 1974 und 1978. Zu welchen Uhrzeiten seine Filme da liefen, ließ sich auf die Schnelle nicht herausfinden. 2021 jedenfalls läuft der letzte Wettbewerbsfilm am Tag so spät, dann man vor Mitternachts nicht in Bett kommen kann. Zumindest wir Filmkritiker, für uns gibt es eigene Vorstellungen – parallel zu den abendlichen Galas mit den Stars, die wohl noch später anfangen wegen des Geplänkels vorher.

Am Dienstag, dem Eröffnungstag, ist man noch gnädig: um 19.25 Uhr startet die nur 140 Minuten lange „Annette“, der Musicalfilm des Franzosen Léos Carax, dem wie einst Fassbinder das Etikett des Enfant terrible anhaftet. Am Donnerstag startet der letzte Wettbewerbsfilm dann um 22 Uhr, er ist zwei Stunden lang. Am Samstag beginnt um 22.15 Uhr der Film von und mit dem US-Schauspieler Sean Penn. Wer das nicht schafft, bekommt eine zweite Chance: um 22.30 Uhr (108 Minuten). Das ist das Training für den Mittwoch, wenn einer der fünf französischen Wettbewerbsfilme um 22.30 Uhr startet, die zweite Vorstellung um 22.45 Uhr (106 Minuten).

Danach muss man erst mal aus den Festivalpalais rauskommen, den Weg ins Apartment finden, um so gegen 1 Uhr ins Bett zu fallen (nein, Partys gibt es in diesem Jahr keine, zumindest nicht offiziell – Corona!) und zu schlafen. Aber nur bis 7 Uhr morgens! Dann öffnet das Internetportal zum Ticketbuchen für die nächsten zwei Tage, damit man es überhaupt in die 22.30-Uhr-Vorstellung schaffen kann. Da muss man schnell sein sonst ist alles ausgebucht. Bisher, zumindest seit 1994, meinem ersten Cannes-Jahr, brauchten Journalisten überhaupt keine Tickets. Sie mussten einfach nur eine Stunde vor Filmbeginn da sein, sich in langen Schlangen dicht an dicht anstellen und auf den Einlass warten. Der erste Wettbewerbsfilm begann um 8.30 Uhr, der letzte gegen 19 oder 20 Uhr. Das Anschlangen in Massen geht wegen Corona natürlich nicht mehr. Darum nun erstmals Tickets für Journalisten mit exakt vorgeschriebener Eintrittszeit ins Kino.

Wie war das mit dem Schlafen und dem Tod? Zugegeben, so extrem wie dieses Jahr war es in Cannes noch nie. Und noch weiß man gar nicht, wie streng das mit den Corona-Regeln gehandhabt wird. Die erste Vorstellung kommt erst am Dienstagnachmittag. Am Montag jedenfalls fühlte ich mich dem Tod durchaus schon ein bisschen näher: Keine einzige Corona-Kontrolle am Berliner Flughafen! Der Flieger war voll, alle trugen die ganze Zeit Masken. Bei der Ankunft am Flughafen von Nizza: Masken ja, aber keine einzige Corona-Kontrolle!

Nicht mal das auf Französisch brav ausgefüllte Formular, dass man keine neuen Hals- und ungewohnten Muskelschmerzen hat und gut riechen kann, das laut Auswärtigem Amt für die Einreise nach Frankreich nötig ist, wollte irgendjemand sehen. Geschweige denn tagesaktuelle negative Testergebnisse oder Impfnachweise. Da wird einem doch richtig mulmig bei diesem weltweit ersten kulturellen Zehn-Tage-Festival, das komplett in Präsenz ohne irgendwelche Online-Auslagerungen in voll besetzten Sälen stattfinden soll – wie in den 70ern, als Fassbinder da war.

Aber der ging in Cannes ja nicht ins Kino. Nicht mal in seine eigenen Filme. Er hatte Angst, ausgepfiffen zu werden. Das hätte man alles 2020 in Cannes sehen können, denn da war der Spielfilm „Enfant terrible“ (von Oskar Roehler) über Fassbinders wildes Leben in den Wettbewerb eingeladen worden. Das Festival wurde abgesagt, Roehler wollte nicht warten und startete seinen Film auf einer Streaming-Plattform, was automatisch den Ausschluss für Cannes 2021 bedeutete. Da sind die Franzosen als letzte Gralshüter des Kinos unerbittlich. Was bleibt, sind nun die extrem kurzen Nächte als große Fassbinder-Hommage. Darauf können nur die Franzosen kommen!

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