Kultur Ruud
Im Sommer beginnt das Erzählen. Zumindest in der RHEINPFALZ ist das so, jetzt das 23. Mal. So lange gibt es unsere Sommererzählreihe schon, an der sich berühmte Schriftsteller wie Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino, der vielfach ausgezeichnete Speyerer Thomas Lehr oder wie dieses Jahr wieder Kleist-Preisträgerin Monika Rinck beteiligen. Daneben sind Mitglieder der RHEINPFALZ-Redaktion dabei, heute schreibt Sigrid Sebald. Thema ist „Die blaurote Luftmatratze“.
Jochen hatte sich gar nicht aufgehängt, sondern schon was Neues am Laufen. Als Bettina klingelte, um zu überprüfen, ob er noch lebt, öffnete Melli die Tür, im Freizeitanzug und barfuß, so dass man ihre unsachgemäß lackierten Zehennägel sah. „Was issen?“, fragte Melli, und Bettina fiel nichts Besseres ein als zu sagen, dass sie Jochen noch 20 Euro schuldet. „Gib her, ich geb’s ihm später“, knarzte Melli und stopfte sich den Geldschein in die Trainingshosentasche. Bettina war nichts eingefallen, was das hätte verhindern können. Die 20 Euro wollte sie später von Cora wieder haben. Schließlich hatte die sie hingeschickt, um nach Jochen zu sehen. „Ich mache mir große Sorgen um ihn, seine letzte SMS klang so bedrückt, er kann es nicht verkraften, dass wir uns nicht mehr sehen, er wird sich was antun, ich fühle es“, und so weiter und so fort, Bettina kannte das schon und ließ sich breitschlagen, auch das kannte sie. Als sie Cora vom lebenden Jochen und Mellis Zehennägeln berichtete, zog Cora kurz und scharf die Luft ein, sagte „so“, dann eine Weile nichts und dann: „Übersprunghandlung. Er muss sich ablenken, damit ihn der Schmerz nicht zerstört.“ Bettina nickte und meinte, gut sei ja immerhin, dass Klaus nicht gemerkt habe, dass Cora ihn betrog, und was denn jetzt mit den 20 Euro sei. Da schüttelte Cora fassungslos den Kopf über ihre Freundin, der es so dermaßen an Tiefgang mangelte, dass es einer Sau grauste, und erklärte ihr, dass sie Klaus nicht „betrogen“ habe, in so stupiden Mustern denke sie nicht, das mit Jochen habe sie nicht forciert, das sei ihr passiert, fast ohne ihr Zutun, man habe sich einfach so stark zueinander hingezogen gefühlt, Seelenverwandtschaft, Himmelsmacht, Schicksal, intensive und starke Gefühle, von denen Bettina null Ahnung habe, und die 20 Euro könne sie sich sonst wohin stecken. Zwei Wochen später fuhren sie nach Amsterdam. Cora hatte das organisiert, es war so ein Traum von Jochen gewesen, in Amsterdam auf einem Hausboot Urlaub zu machen, und Cora hatte nun all ihren Ehrgeiz darauf verwandt, es vor ihm zu tun. Erst wollte sie Klaus mitnehmen, aber der hatte einen pathologischen Hass auf Holländer und keinen Urlaub, also musste Bettina mitwollen. Cora hatte bei AirBnB gebucht, unter ihrem richtigen Namen, Cordula, sehr günstig, sehr zentral, ein in der Lijnbaansgracht liegendes Hausboot, dessen Besitzer, ein gelbgegerbtes und vom wilden Leben in jeglicher Hinsicht gezeichnetes Männlein, Harry-Potter-Fan war, weshalb er sein Boot „Hermelin Griffel“ genannt hatte, Hermine Grangers holländischer Name. Für Bettina war das zu viel, sie hatte ab Eindhoven Coras Nerven strapaziert mit ihren Heiterkeitsausbrüchen beim Anblick niederländischer Wörter. Als sie an einer Tankstelle an der „Kassa“ ihr belegtes „Broodje“ bezahlen sollte, hatte Bettina so dämlich gelacht, dass Cora sie zornig anherrschte, sie solle nicht so kindisch sein. Eine Weile war dann Ruhe gewesen im Touran, bis Bettina auf einem Schild „Fietsen“ und dann auch noch „Bromfietsen“ las. Cora kaute stumm ihr Broodje und gab vor, sich komplett auf die Navi-Stimme von Bruce Willis zu konzentrieren, während es vom Beifahrersitz her gluckste und gluckerte. Jetzt also Hermelin Griffel. Das Männlein interpretierte die unkontrollierte Fröhlichkeit der 1,80-Meter-Walküre aus Deutschland als Folge eines Coffeeshop-Besuchs und stimmte ab und zu keckernd in ihr Gegrunze ein, das in Wellen an- und abschwoll und sich erst komplett beruhigte, als die Schlafstätten präsentiert wurden: eine Koje mit Schlafsack und eine blau-rote Stoffluftmatratze, die neben der Koje auf dem Schiffsboden lag. Ebenfalls mit Schlafsack. Er selbst ruhe nachts im vorderen Teil der Hermelin Griffel, informierte der Gegerbte und empfahl sich. „Ich kann nicht auf dem Boden schlafen, mein Rücken“, erklärte Cora, mit dem Rehkopf schon halb in der Koje steckend. Die mittlere Kammer der Luftmatratze war schlaff. „Not-enough-AirBnB“, bemerkte Bettina und fand das ziemlich geistreich. Aber Cora antwortete nicht, tat geschäftig und übertrieben aufgekratzt beim Versuch, ihren Reisetrolley in das integrierte Winzschränkchen zu zwängen. Bettina pustete im Matratzen-Mittelstück nach. Jetzt reagierte Cora. „Eklig. Wer weiß, wer da vorher schon alles den Mund dranhatte.“ Es roch nach feuchten Planken und dem porösen Gummi der Luftmatratze. Hinter dem angelaufenen Kojenfensterchen sah Cora fadendünne Stechmücken über dem Wasserspiegel zittern. Auf dem Leidsepleijn, einem laut Reiseführer belebten Platz gleich um die Ecke, mühten jüngere Versionen ihres gelben Gastgebers sich mit Jonglage-Keulen und Einrädern ab oder spuckten gleich Feuer in die Luft, das kann jeder, der sich traut, seinen Mund mit einem halben Liter brennbarer Flüssigkeit zu füllen. Feuershow hieß das dann, Vuur-Show, und Spenden wurden gern gesehen. Ein paar Halbwüchsige führten Retro-Breakdance vor, aus einem 80er-Jahre-Ghettoblaster wummerten Afrika Bambaataa und Kurtis Blow, und Cora forderte Bettina auf, nicht so steif dazustehen, sondern sich der Musik hinzugeben. Coras anfängliches Wippen und Schnippen war in eine Art Sprungtanz übergegangen, sie klatschte in die Hände, rief „jou!“ und „yeah!“, und als sie den Takt Schwarzafrikas deutlich in sich spürte, sagte Bettina, dass sie Rap nicht so mag. Es war kurz vorm Krach, als sie Ruud trafen. Im Melkweg war das, dem legendären Amsterdamer Musikclub, der in den 70ern und frühen 80ern ein Jugendzentrum war, zu dem sämtliche Kiffer Westeuropas gepilgert waren. 1981 hatten The Grateful Dead dort gespielt, heute legte eine belgische DJane mit schwarz gefärbtem Topfschnitt und strengem Blick Electro und House auf. Das war noch schlimmer als Rap, aber Bettina wollte nicht schon wieder die Stimmung runterziehen. Cora war offensiv gut drauf und hatte schon drei Caipirinhas getrunken, seit sie Jochens Reaktion auf ihre Facebook-Posts mit Bildern von Amsterdam gesehen hatte. „Sieht super aus. Viel Spaß.“ Dahinter ein hochgereckter Daumen und ein Wink-Smiley. Ruud, ein Anbaggerer der alten Schule, hatte sich neben sie an die Theke gesetzt und noch drei Caiphis bestellt. Man kam ins Gespräch, sie seien Touristinnen aus Deutschland, stellten Bettina und Cora sich vor, und Ruud sagte, er sei Ruud Gullit, aber darüber bräuchten sich die zwei Ladys keine Gedanken zu machen, heute Abend sei er einfach nur als ganz normaler Gast hier. Bettina hatte keinen Schimmer, aber Cora hatte früher in der Schule Fußball-Magazine abonniert, um sich bei Klaus und seinen Freunden beliebt zu machen, und sie rief begeistert „cool!“, und er sei ja so süß gewesen damals mit seinen Rasta-Zöpfchen und habe natürlich auch super Fußball gespielt, und er solle jetzt hier ja nicht rumspucken, „don’t you!“, a-ha-ha, kecker Blick, Köpfchen schiefgelegt, die Cora-Flirt-Maschine lief auf Autopilot. „Frank Rijkaard hat Rudi Völler angespuckt, nicht ich, aber das verwechseln die Leute oft, weil die Sache schon fast 30 Jahre her ist und wir beide schwarz sind“, erklärte Ruud mit lässiger So-what-Handbewegung. Irgendwie schien er aber doch gekränkt zu sein, denn er bedrängte fortan verstärkt Bettina. Vielleicht auch, weil man sie besser sah. Wäre Cora auf der Höhe gewesen, hätte sie nie zugelassen, dass Ruud mit ihnen die Hermelin Griffel bestieg, aber inzwischen hatte sie sechs oder sieben Caiphis intus, und ihr war schlecht. Auf dem Weg zur Lijnbaansgracht musste sie sich sehr konzentrieren, um die Spur zu halten. Dass das Männlein auf dem Boot, erfreut über die unerwartete Gesellschaft zu später Stunde, noch mal aufstand und nur mit Shorts bekleidet einen Joint rumgehen ließ, war nicht hilfreich. Als Ruud und Bettina anfingen zu fummeln und das Männlein, ermutigt vom Vorbild des früheren Nationalspielers und der zumindest teilweise sexuell aufgeladenen Atmosphäre, seinerseits Cora an die Wäsche wollte, wankte Cora in die Koje und zog den Vorhang zu. Den Rest der Nacht hörte sie Geräusche von der ranzigen Luftmatratze, die für Bettina alleine schon zu klein gewesen war, Schmatzen, Schnaufen, das Reiben des Stoffbezugs auf den Schiffsplanken, dazwischen Bettinas Gequieke, wenn Ruud das „verdomd Luchtbed“ verfluchte, in dem „veel te weinig Lucht“ sei, dann wieder Schleifgeräusche, Rutschen und Schieben, Cora empfand sogar Ruuds Stöhnen als Holländisch klingend und musste an Klaus denken. Die Heimfahrt verlief sehr still, nachdem Cora Bettina eine willenlose und oberpeinliche Grachtenschlampe genannt hatte. Und so viel Tiefgang hatte Bettina dann doch, dass sie deswegen schwer beleidigt war. Sie schwieg eisern, 600 Kilometer lang, den Blick stur nach vorne gerichtet, diesmal fuhr sie, an der Tankstelle blieb sie sitzen, ließ Cora aussteigen, tanken, zur Kassa gehen. Cora wartete auf Bettinas Einlenken, bis Bruce Willis kundtat, dass man nun das Ziel erreicht habe. Bettina sagte „Tschüss“ und knallte die Touran-Tür zu. Irgendwie hatte die Sache mit Ruud das Kräfteverhältnis zwischen ihnen verschoben, das dämmerte Cora, als sie auf den Fahrersitz rüberkletterte. So differenziert dachte sie es aber noch nicht, es ging eher in Richtung „Scheiß Luftmatratze“. Zu Hause wollte Klaus Cora lange nicht glauben, dass ausschließlich Bettina es mit diesem schwarzen holländischen Ex-Fußballer auf dem Schiffsboden getrieben hatte, während sie rechtschaffen in der Koje lag, belästigt nur von Stechmücken. Jochen hatte Klaus Frank Rijkaards Facebook-Seite gezeigt, wo Rijkaard ein Selfie von sich, Cora und Bettina an der Melkweg-Bar gepostet hatte, auf dem Cora sehr betrunken und Bettina sehr mächtig aussah. Zwei Haasjes aus Deutschland habe er abgeschleppt, hatte Rijkaard das Foto untertitelt, „met de Ruud-Gullit-Truc – gaat immer!“. Dahinter ein Sonnenbrillen-Smiley. Die autorin Sigrid Sebald (48) ist RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann, Kind und Katzen auch lebt. Im berühmten Amsterdamer Melkweg war sie nie, ist nur mal dran vorbeigelaufen und hat infolgedessen auch bisher keinen holländischen Ex-Fußballstar kennengelernt. Bisher erschienen: Gabriele Weingartners „Strandkorb, erste Reihe links“ (15. 7.), Michael Bauers „Styroporfragment mit blauen Farbresten“ (19. 7.), Frank Pommers „Insel der Erkenntnis“ (22. 7.), Rainer Dicks „Der Doktor-Vater“ (26. 7.), Saskia Hennig von Langes „Die Brandung“ (29. 7.) und „Ohne Aussicht“ von Anja Kunz (2. 8.)