Erzählung RHEINPFALZ-Sommererzählreihe „Jetzt!“ (12): „Verschissen“ von Rainer Dick

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Immer, wenn es Sommer wird, beginnen wir mit dem Erzählen. Seit 1995 geht das so. Die Reihe, ein Klassiker. Es schreiben Schriftsteller/innen und Journalist/innen. Heute: RHEINPFALZ-Redakteur Rainer Dick aus Kaiserslautern.

Und was jetzt? Was ist Jetzt?

Zu seinen seltenen, dann aber üppig ins Kraut wuchernden Rache-, Be- und Abstrafungsfantasien gehörte die Vorstellung, den Wust der tagtäglich hereinbrechenden Rundschreiben, Verlautbarungen und Mitteilungen von Vorgesetzten, Besserwissern, Befehlshabern und Wohlmeinern aller Art mit ebenso umfangreich, redundant, anglizismenreich und haarklein verschwurbelt formulierten Anmerkungen und Nachfragen umgehend zurückzuexpedieren und anschließend – o Wonne der Retourkutsche – mit einem altmodischen Nasspapier-Kopierer seitenweise auszudrucken, auf dass den Urhebern dieser Reglementierungs- und Strukturverbesserungs-Theorien endlich und ein für alle Mal praktisch vor Augen geführt werde, in welch potenziert hohem Maß ein exzessiv übersteigerter Kommunikationstrieb von vorneherein zum armseligen, weitgehend sinnfreien und mithin kontraproduktiven Exzess verkommen konnte.

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Er tadelte sich ob solch lustvoll ausgemalter Szenarien und musste zugleich eingestehen, dass diese Art von Kommunikation ohnehin gar nicht dem beider- oder gegenseitigen Austausch dienen sollte, sondern vielmehr allein einer durch Regelungswut, hierarchische Blasiertheit und vermeintlicher Notwendigkeit zu letztgültigen Entscheidungskompetenzen zum Popanz aufgeblasenen Dünkel beruhte, der Dialog vorgaukelte, aber allzu schnell auf apodiktische Monologe zusammenschrumpfte wie eine Pflaume, deren scheinbar verlockendes Fruchtfleisch beim ersten Sonnenstrahl zum unansehnlich abstoßenden Schrumpel-Winzling zerfiel und die eigene Minimierung weder aufhalten konnte noch wollte, weil sie viel zu sehr mit der Aufrechterhaltung der eigenen Ansehnlichkeit beschäftigt war, um auch nur einen Augenblick lang nach aktueller Substanz und künftigem Gehalt zu fragen.

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So blieb er allzeit hin- und hergerissen im Bewusstsein, einerseits das Missverhältnis zwischen militant machtbewussten auftretendem Schein und selbstzweckhaftem Sein zwar zu erkennen und aufgrund seiner Liebe zu schöner Sprache, elegantem Stil und feinem Satzbau wortreich pittoresk benennen zu können und andererseits seinen Status als kleines Würstchen zu behalten, als ohnmächtiges Rädchen im großen Getriebe, ja gar als hoffnungslos querulantischer Nörgler zu gelten, den die einen belächelten, auslachten und nicht weiter (be-) achteten, während andere ihn vor den Gefahren eines allzu losen Mundwerks warnen zu müssen glaubten, wieder andere seine durchaus seltenen Wortmeldungen mit einer mühsam erduldeten, letztlich aber gleichgültigen „Lass-den-nur-reden“-Attitüde bedachten und ganz andere im Geiste nach einem Bleistift für die nächste Strafaktion griffen, die gutmütige Zeitgenossen womöglich ohne eigenes Wissen irgendwo tief im Herzen vorbereiten und weniger verzeihlich gesonnene Widersacher offen in Aussicht stellen, vor allem dann, wenn ihre Autorität nicht auf natürlicher und geistiger Überzeugungskraft, sondern auf aufgeblasener Pfauenhaftigkeit beruhte, die sich schlimmstenfalls auch noch voll anmaßender Hoffärtigkeit in Ton und Lautstärke vergriff.

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Wirklich umgehen konnte er weder mit den einen noch mit den anderen, aber immerhin hielt er sich für einen dialogbereiten, meinungsaustauschfähigen und auch in Streitfragen aufgeschlossen zuhörenden Humanisten, der manchmal erst verspätet, aber dann umso klarer sogar die jovialsten Blender, eigenreklamefixiertesten Schreihälse, gravitätischsten Selbstdarsteller, wortreichsten Selbstmarketingexperten und schroffsten Inhaber des letzten Worts durchschaute, bei deren Letzteren er frühzeitig seine rhetorischen Waffen strecken musste, weil sie im Falle der Uneinigkeit entweder das Gespräch abrupt beendeten, wütend gebellte Kommandos ausstießen oder unflätig laut mit Beleidigungen und böswilligen Unterstellungen um sich warfen, wenn sie ihn nicht gleich – siehe oben – ins Leere laufen, nein: torkeln ließen.

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Er wusste, dass er im Lauf der Jahre immer dünnhäutiger und sensibler und darum unduldsamer und unbeherrschter geworden war, dass er in einigen Fällen sogar die wenigen Freunde vor den Kopf stieß, nachdem er unmerklich und peu à peu den Bekanntenkreis immer weiter ausgedünnt hatte, weil der eine oder die andere den Kontakt nur unzureichend gepflegt, sich auf die falsche Seite geschlagen oder seinen Anforderungen an Loyalität, Wertschätzung an Anteilnahme nicht standgehalten, vielleicht sogar die gemeinsame Herkunft vergessen hatten und stattdessen plötzlich Ansichten vertraten und unter Hinweis auf vermeintlich eherne Gegebenheiten durchzusetzen trachteten, die früher, als man noch Seit’ an Seit’ marschierte und Aug’ in Aug’ verkehrte, für gemeinsame Empörung gesorgt hatten.

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Wen er einmal gemocht und dann in dieser unrühmlichen Weise kennengelernt hatte, der oder die hatte verschissen, auch wenn er oder sie sich um Wiedergutmachung bemühte wie jene Lehrer, die ihm einreden wollten, sie hätten zur Anbahnung seines Lebenswegs beitragen wollen, wobei sie vergaßen, dass vor Jahrzehnten ihre kläglichen Versuche in Pädagogik, Ethik und Menschlichkeit nicht auf Respekt, Überzeugung und Augenhöhe bauten, sondern auf Distanz, kühler Überheblichkeit und schroffer Autorität errichtet waren, so dass er ein lebenslanges Misstrauen entwickelte gegenüber allem, was aufgeblasen und erhaben daherkam statt offen und gleichberechtigt.

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Dass bornierte Arroganz auch etwas mit Unsicherheit und Scheu zu tun haben könnten, war ihm nur theoretisch bewusst und in der Praxis auch nicht von Belang, weil Hochnäsigkeit oder gar der Größenwahn der Subordination sich stets real und unmittelbar vermittelten und ihre verletzende Wucht sofort entfalteten wie damals schon, als sein Desinteresse am und Untalent zum Fußball einen gänzlich irregeleiteten Pädagogen dazu verleiteten, ihn beim Schulsport einfach zum Waldlauf zu schicken, derweil alle anderen fürs Kicken rekrutiert wurden und der Gleichheitsgrundsatz erst wieder in den geisteswissenschaftlichen Fächern hergestellt wurde, was ihm immerhin die Gewissheit gab, dass jeder Mensch eine Existenzberechtigung hat, außerdem das Recht und die Pflicht, Missstände beim Namen zu nennen und ignorante Schaumschläger einer bleibend abschreckenden Bestrafung zuzuführen.

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Die öffentliche, verdientermaßen demütigende Züchtigung unfähiger, bürgerferner, parteiorientierter und menschenverachtender Politiker, dem Cäsarenwahn verfallener Vereinsfunktionäre und abtrünniger Freunde glaubte er ebenso in Erwägung ziehen zu dürfen wie ein Exempel an stinkfaul paragrafenreitenden Verwaltungsbediensteten, hinterlistigen Politessen und Radarfallenstellern, hochnäsigen Ärzten samt arbeitsunwilligem Pflegepersonal sowie allen Freunden und Bekannten, die ihn irgendwann einmal enttäuscht oder vor den Kopf gestoßen hatten. Auch ein Verbot von 0,3-Liter-Bierflaschen, asozialen Verblödungssendungen im Fernsehen, substanzlosen und sprachlich unbeholfenen Zeitungs- und Fernsehbeiträgen, schlechten Büchern, Fischgerichten mit Gräten, kratzenden Hemdkrägen, des Ampelbetriebs nach Mitternacht, ja generell des Dummschwätzens, Unsinnverzapfens und Fehlgehens schienen ihm nachdenkenswerte Schritte in eine bessere Welt. Erst dann, so schien es ihm, könne er sich wieder guten, vor allem erleichterten Gewissens seinen Idealen von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit widmen. Es war ihm ernst damit. Und eilig.

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So viel zum Jetzt.

Der Autor

Rainer Dick, vor 53 Jahren in Kusel geboren, ist RHEINPFALZ-Kulturedakteur in Kaiserslautern und Autor mehrerer filmkundlicher Bücher.

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