Kultur Nervenmusik und eine Oper für junge Leute

Schönberg mit Lust und Leidenschaft: die Geigerin Patricia Kopatchinskaja als Solistin und der kommende Chefdirigent Kirill Petr
Schönberg mit Lust und Leidenschaft: die Geigerin Patricia Kopatchinskaja als Solistin und der kommende Chefdirigent Kirill Petrenko am Pult der Berliner Philharmoniker.

Verdi war dieses Jahr Schwerpunkt der Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker in Baden-Baden, mit der szenischen Produktion des „Otello“ (wir berichteten) und zwei Aufführungen des Verdi-Requiems. Im chefdirigentenfreien Jahr des Berliner Orchesters leiteten die Altmeister Zubin Mehta und Riccardo Muti die Konzerte. Doch auch deren kommender Chef Kirill Petrenko kam schon zum zweiten Mal ins Festspielhaus.

Hatte Petrenko vor zwei Jahren mit den Philharmonikern eine phänomenale „Pathetique“ von Tschaikowsky dirigiert, so begeisterte er jetzt mit einer ebenso einmaligen Wiedergabe der fünften Sinfonie von Tschaikowsky. Warum einmalig? Weil Kirill Petrenko das gigantische Potenzial des Orchesters für ein Musizieren nutzt, das die Spannung und Ausdrucksintensität der Partitur bis zum Äußersten ausreizt. Bei Petrenko ist Tschaikowsky schiere Nervenmusik, die alle Sinne erfasst und die in jedem Augenblick hundertprozentig bei dem aktuellen musikalischen Charakter ist. Da wechseln Klangfarben, Dynamik, rhythmische Energie und melodische Emphase von einer Sekunde auf die andere. Jedes Motiv ist individuell und pointiert, auch extrem gehaltene Generalpausen bannen das Publikum. Und doch ist der Zusammenhang der Sinfonie immer gewahrt, fällt nichts auseinander. Am ersten Abend mit der Fünften spielte im ersten Teil Patricia Kopatchinskaja das Violinkonzert von Schönberg mit einer Verve, als wäre es Mozart, Beethoven oder Brahms. Bei der Zugabe von Milhaud leistete ihre Soloklarinettist Andreas Ottensamer Gesellschaft. Wie immer gibt es bei den Osterfestspielen für das Publikum von morgen die szenisch aufgeführte Oper in einer Kinderversion. „Der Kleine und Otello“ hieß sie diesmal. Aurélien Bello entwarf die Musik mit viel Anleihen bei Verdi. Tiina Hartmann schrieb das Libretto, das nicht Shakespeares tödliches Eifersuchtsdrama in jugendfreier Version brachte, sondern Grundmotive und Dramaturgie der Vorlage in einer für Menschen ab sechs Jahren nachvollziehbaren Weise abwandelte. Das Ergebnis, das im malerischen Theater Baden-Baden zu sehen war, überzeugte. Exzellente Philharmoniker im Orchestergraben, dirigiert von Raphael Haeger, und vorzügliche junge Sänger von Musikhochschulen des Landes sorgten in der Regie von Mareike Zimmermann für ein nicht nur junge Leute ansprechendes Musiktheatererlebnis. Einigen Szenen waren mit Verdi in Kammerbesetzung unterlegt, bei anderen beschwor der Komponist einen afrikanischen Tonfall, denn ein Löwe und Afrika spielten wichtige Rollen. Es wäre zu wünschen, das unter der neuen Intendanz dieser Akzent bei den Osterfestspielen erhalten bleibt. „Otello“, Verdis letzte ernste Oper, ist ein Gipfelwerk der Gattung und die vielleicht genialste Oper des Komponisten, wenn man denn nicht als Verdis größte Oper sein Requiem bezeichnen will. Diese Totenmesse fügte sich deshalb ideal in das Festspielprogramm ein – und das mit einem wirklich optimalen Maestro am Pult: Riccardo Muti. Er ist mit dem Werk aufs Innigste vertraut. Seine Deutung war dennoch alles andere als Routine. Mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks in der Einstudierung von Howard Arman war das Pendant zu den Berliner Philharmonikern gefunden. Vier Top-Solisten begeisterten: die wundervoll hochkultiviert singende Mezzosopranistin Elina Garanca, die erlesen agierende Sopranistin Vittoria Yeo, der klangvolle Tenor Francesco Meli und der profunde Bass Ildar Abdrazakov. Muti weiß nun wirklich alle dramatischen Effekte des Werks auf den Punkt zu bringen. Seine aktuelle Deutung war eine Verdi-Interpretation von überwältigender Sprachkraft, die in jedem Takt die existenzielle Dimension dieses Stücks vergegenwärtigte. Da war eine geradezu archaische Strenge und unerbittliche Kraft zu spüren, die spürbar machte, dass diese Musik im Ernst von letzten Dingen handelt.

Otello und sein Sohn Otellino: Szene aus der Kinderoper zu den Osterfestspielen.
Otello und sein Sohn Otellino: Szene aus der Kinderoper zu den Osterfestspielen.
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