Literatur Lust an der Sprache: Hans Thill wird 70 und veröffentlicht neue Gedichte
Was Karaoke ist, hat sich längst herumgesprochen. Die aus Japan stammende Kulturtechnik setzt sich zusammen aus den Worten „Kara“, was so viel wie „leer“ bedeutet, und „Oke“ als Kurzwort für „Orchester“. Die Idee von Shigeichi Negishi (1924 bis 2024), Melodien von Songs ohne Texte abzuspielen, so dass man sie selbst zur Musik nachsingen kann, fand überwältigende Resonanz: Karaoke-Anlagen, -Bars und abgewandelte Formen davon sind heute weltweit verbreitet.
Was aber hat es mit lyrischer Karaoke auf sich? Das weiß, wer den Band „Karaoke 2“ von Hans Thill liest. Thill, der am 1. Oktober seinen 70. Geburtstag feiert, hat 16 Gedichte aus fünf europäischen Sprachen zum Anlass genommen, um die Kulturtechnik des Nachsingens für seine eigene Dichtung produktiv zu machen. Gedichte von Andreas Gryphius, Georg Rodolf Weckherlin, Friedrich Hölderlin, William Wordsworth, August Graf von Platen, Stefan George, Yvan Goll, Stéphane Mallarmé, Saint-Pol Roux, Guillaume Apollinaire, José Maria de Heredia bzw. seinem Übersetzer Hanns Grössl, Else Lasker Schüler, Federico Garcia Lorca, Ilse Aichinger, Tomasz Rózycki beziehungsweise seiner Übersetzerin Dagmara Kraus und Habib Tengour sind auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Polnisch versammelt. Und sie werden dann, nachdem Thill einen Aufgesang auf den jeweiligen Namen der Versammelten angestimmt hat, Vers für Vers „nachgesungen“, von der Überschrift bis zum Ende des Gedichts.
Bei Friedrich Hölderlins „An die jungen Dichter“ singt Hans Thill die Überschrift folgendermaßen nach: „AN DIE Kapuzen, an die jugendlichen Trinker / der Rewe-Supermarkt-Musik. An die mit Rädern / unten dran. An die flachgelegten / Schwarzwald-Berg, an die Mädchen dortselbst. An die Frühstückslesben mit den durchbohrten / Nasen. An die Plummestresser, an die / Bretzelbuwe.“ Das klingt eigenwillig, unverkennbar komisch, heutig, ganz so, wie Hans Thill als ein Dichter unterwegs ist, der nicht nur an der französischen Literatur in ihrer ganzen Bandbreite, aber insbesondere am Surrealismus geschult ist, sondern auch für eine deutschsprachige Lyriktradition interessiert, die sich gerne auch in den Hallräumen des Derben, des Umgangssprachlichen, des aus dem Alltag Kommenden, über den Weg der Kunst ins Alltägliche zurückverwandelt werden kann.
Nachgesang eines Bänkelsängers
Etwas gemeinsam hat Thill als Karaoke-Dichter mit den Bänkel- oder Moritatensängern, die man gewissermaßen als analoge Vorläufer des Karaoke begreifen kann: spitzzüngige Beobachter des Zeitgeschehens. Etwas gemeinsam hat er auch mit den Vertretern der Wiener Gruppe, zu der H.C. Artmann, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, der in einem Gedicht explizit angesprochene Gerhard Rühm und Oswald Wiener gehörten. Auch Ernst Jandl und Friederike Mayröcker standen der Wiener Gruppe nahe. Die Nähe zur der avantgardistischen, Mitte der 1950er-Jahre gegründeten Gruppe, zu deren Lust am Experiment zeigt sich in Thills Nachdichtung von Ilse Aichingers Gedicht „Spaziergang“. Im Nachgesang auf den Autorinnennamen schreibt Thill in Anspielung auf das Ehepaar Günter Eich und Ilse Aichinger: „Das A-ich sagt zum E-ich / es habe seinen Atem noch / bei sich. Das E-ich aber sprach: wir saßen um eine Flasche / und tranken Tee // Niemand ist eine Ilse“.
Eine wilde und unbändige Lust an der Sprache, am Verschieben, Verrücken, Verzwirbeln und Enttarnen, ein Spieltrieb, der literarische Traditionen gleichermaßen erhöht wie erdet, spricht aus den 16 Gedicht-Karaokes von Hans Thill, der sich selbst zu den „vermaledeiten Schreibern“ zählen dürfte, die er in „Karaoke 2“ besingt. Man liest aus ihnen, wie im Werk dieses Dichters, Herausgebers, Übersetzers und Anthologisten, der als Leiter des Künstlerhauses Edenkoben auch lange Jahre die Übersetzerwerkstatt „Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter“ verantwortet hat, seit seinem Lyrikdebüt „Gelächter Sirenen“ aus dem Jahr 1985 zwar die Erfahrung. Sie ist immens gewachsen, das Unvoreingenommene und im anrührenden Sinne Kindlich-Anarchische ist aus seinen Gedichten jedoch niemals ganz gewichen.
Lesezeichen
Hans Thill: „Karaoke 2. Gedichte“; Engeler Verlag, Schupfart; 162 Seiten; 14 Euro.