Pop Judith Holofernes im Gespräch über ihre Beinahe-Autobiografie

„Die Träume anderer Leute“ hat Judith Holofernes ihr erstes Buch genannt.
»Die Träume anderer Leute« hat Judith Holofernes ihr erstes Buch genannt.

Die Musikerin Judith Holofernes, bekannt geworden durch Wir sind Helden, beschreibt in ihrem feinsinnig erzählten neuen Buch Fluch und Segen des frühen Erfolgs. Mit der RHEINPFALZ hat sie darüber gesprochen. „Ich habe mich einfach total in mir und meinen eigenen Kräften verschätzt“, sagt sie.

„Guten Tag“, „Aurélie“, „Nur ein Wort“, oder „Denkmal“ gehören zu den größten Hits der in den Nullerjahren reüssierenden Popband Wir sind Helden. Judith Holofernes schreibt damals nicht nur alle Songtexte, sondern ist auch Sängerin und Frontfrau. 2012 ist der Traum aus: Nach zwölf Heldenjahren, fünf davon als Rock’n’Roll-Mama mit erst einem, dann zwei Kindern und ihrem Ehemann Pola Roy, dem Schlagzeuger der Band, ständig auf Tour, in Bussen, Hotels und Aufnahmestudios unterwegs streiken Körper und Seele der Musikerin. Die Doppelbelastung aus Popzirkus und Familienleben hat gesundheitliche Folgen. Die ihr auch das wichtigste Instrument, ihre Stimme, nehmen. „Ich habe mich einfach total in mir und meinen eigenen Kräften verschätzt“, erinnert sich die jetzt 45-Jährige im Gespräch mit dieser Zeitung.

Ein Blick hinter die Kulissen

„Ich wollte so sehr, dass es funktioniert, dass ich die Signale meines Körpers über Jahre überhört habe. Erst war es ein Knie, das mir weggesackt ist, dann ständiges Kranksein, Stimmprobleme… Und am Ende eben eine wirklich bedrohliche Erkrankung, eine Hirnhautentzündung, deren Ursache bis heute ungeklärt ist.“ Mit ihrer ab 2020 sukzessive online gestellten Blogtext-Sammlung, die nun als 408-seitiges Buch „Die Träume anderer Leute“ vorliegt, hat sie im Grunde das aufgeschrieben, was sie selbst in den Jahren nach Wir sind Helden so dringend gebraucht hätte. Es ist ein Blick hinter die Kulissen des Rock’n’Rolls mit all seinen „Games of Thrones“: Erfolgsdruck, Starkult, Chauvinismus, Kapitalismus und das Quasi-Nicht-Vorkommen von Mutterbildern im Rock.

„Ich habe richtig aktiv nach solchen Büchern gesucht, aber niemand schreibt über die Zeit danach, nach dem großen Erfolg, über das Erwachsenwerden im Pop“, erzählt sie. „Es ist einsam, wenn man für seinen Lebensweg keine Vorbilder findet! Deshalb hab’ ich mir gedacht: Dann schreib’ ich das eben. Und erst dann gemerkt, dass auch andere Leute mit diesen Themen in Resonanz gehen: Passt mein altes Leben überhaupt noch zu mir? Haben meine Träume sich verändert? Wie möchte ich jetzt, als die, die ich jetzt bin, eigentlich leben?“

Das Nicht-Loslassen-Können

In 50 Kapiteln beschreibt sie ihre Gefühle und Gedanken zwischen 2010 bis 2019, ergänzt durch einen Epilog von 2022. Das Nicht-Loslassen-Können von der geliebten Band und vom Musikbusiness – obwohl sie längst ausgebrannt, unglücklich, krank ist. Als Zwölfjährige bereits träumte sie davon, Rockstar zu werden; später wird der Spagat aus Familien- und Tourneestress zum Albtraum. Sie zieht die Reißleine, die Band pausiert, der innere Konflikt bleibt: Was, wenn es das schon gewesen ist mit der Popkarriere? Wie den Übergang von der poppig-juvenilen Judith zur erwachsenen, ernstzunehmenden Künstlerin Holofernes mit zwei Kindern stemmen?

Sie wagt es, sucht, ihrem „Hell yeah or no!“-Kompass folgend, nach dem kleinen Glück nach dem großen Rausch. Das fragile Soloalbum „Ein leichtes Schwert“ soll ein Befreiungsschlag sein, mit neuer Band will sie zur Königin des Müßiggangs werden. Und zerbricht am Druck des Popbusiness: Die Plattenfirma und ihr aus Heldenzeiten bewährter Manager Walter Holzbaur messen sie an früheren Erfolgen, das Album erscheint acht Wochen früher, um beim Musikpreis „Echo“ punkten zu können. Statt frei zu sein, bestimmt das Label die Marschroute: Jeder Videodreh, jeder Promotion-Termin wird zur inneren Zerreißprobe, ständig am Rande der Überforderung trotzt sie mit leuchtenden Augen dem kommerziellen Korsett.

Sie fühlt sich „unmanagebar“

„Es ist interessant, wie ähnlich sich die Träume anderer Leute und die eigenen sehen können“, blickt sie desillusioniert zurück. „Die ganze Welt hat Bilder davon im Kopf, was es bedeutet, ein Popstar zu sein. Ich habe Jahre gebraucht, um mir einzugestehen, dass meine Träume, die Bilder in meinem Kopf, vielleicht ganz andere sind, und dass ich daher auch mein Leben anders leben muss, als es von einem landläufigen Popstar erwartet wird.“

Als auch der zweite Versuch, das in Eigenregie veröffentliche, augenzwinkernde Nischen-Album „Ich bin das Chaos“ nicht als das ersehnte Rettungsboot taugt und ihr Ehemann auch noch unter Burn-out und Erschöpfungsdepression leidet, gibt es kein Zurück mehr: Sie fühlt sich „unmanagebar“ und will kein „Möchtegernreh im Scheinwerferlicht“ mehr sein.

Neues künstlerisches Leben

Stattdessen schließt sie sich 2019 der Crowdfunding-Plattform Patreon an, um freie Kunst in Form von Podcasts und Gedichten zu machen. „Musik steht gerade erstmal nicht auf dem Plan, weil ich immer noch starke Probleme mit meiner Stimme habe. Im Moment finanzieren eben jene Patrons mir eine ausgiebige und unheimlich aufwendige Stimmtherapie“, verrät sie. „Aber ich möchte gerne bald mit dem nächsten Buch anfangen. Den Schreibeprozess will ich wieder auf Patreon sichtbar machen, und das Ergebnis mit meinen Patrons gemeinsam entstehen lassen. Wenn ich dann wieder singen kann, möchte ich endlich ein paar ins Deutsche übersetzte Lieblingssongs aufnehmen, die seit Jahren in meinem Kopf herumschwirren.“

Ihr ist ein fantasievolles Wimmelbuch voller Lebenspoesie und zugleich ein Stück Autobiografie gelungen, die ihren Rückzug aus dem Musikgeschäft, ihr ewiges Hin und Her bis zum Ritterschlag zur freien Künstlerin beschreibt. Das monumental-bewegende Tagebuch einer Künstlerin, die ihr eigenes Bild dekonstruiert, um endlich die eigenen Träume leben zu können, nicht die anderer Leute.

Lesezeichen

Judith Holofernes: „Die Träume anderer Leute“; Kiepenheuer & Witsch, Köln; 408 Seiten; 24 Euro. Mehr zur Künstlerin unter www.judith-holofernes.de

x