Heidelberg Hip-Hop-Szene ist Kulturerbe: Hip-Hop-Song „Fremd im eigenen Land“ war Vorreiter

Museumsreif: Die Single „Fremd im eigenen Land“ ist bis 19. Juni in der Ausstellung „Arbeit & Migration“ im Mannheimer Technoseu
Museumsreif: Die Single »Fremd im eigenen Land« ist bis 19. Juni in der Ausstellung »Arbeit & Migration« im Mannheimer Technoseum zu hören und zu sehen.

Als die Heidelberger Band Advanced Chemistry im November 1992 „Fremd im eigenen Land“ veröffentlichte, kam das einer Revolution gleich: Es war der erste über die Szenegrenzen erfolgreiche Song, der deutschen Sprechgesang und Sozialkritik vereinte. Einige der damaligen Protagonisten wünschen sich mehr Würdigung für die Pionierleistung, die von Heidelberg für den deutschen Hip Hop ausging – aber die Arbeit daran geht schleppend voran.

„Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf. / Dies bedingt, dass ich mir oft die Haare rauf. / Jetzt mal ohne Spaß: Ärger hab’ ich zuhauf. / Obwohl ich langsam Auto fahre und niemals sauf’.“

Das sind die ersten Zeilen von „Fremd im eigenen Land“, sie sind 30 Jahre alt und hochaktuell. Sie handeln von Alltagsrassismus, von den Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Einwandererfamilien. Davon, dass sich sonst niemand im Zug ausweisen muss als der junge Mensch mit italienischen, ghanaischen oder haitianischen Wurzeln. Sie sind mit der Titelmelodie von „Spiegel TV“ unterlegt, das Intro besteht aus einem Nachrichten-Sample: Kurz vor der Veröffentlichung des Songs war es im August 1992 zu fremdenfeindlichen Krawallen in Rostock-Lichtenhagen gekommen.

Der einzige große Hit

„Fremd im eigenen Land“ sollte der einzige große Hit von Advanced Chemistry bleiben. Advanced Chemistry – das waren 1992 die jungen Heidelberger Frederik Hahn, Kofi Yakpo und Toni Landomini, besser bekannt als Torch, Linguist und Toni-L. Wenn sie heute zu einer Veranstaltung eingeladen sind, zu einem Vortrag, einem Gespräch oder einer Party, dann steht ihr Name immer mit dem Zusatz „Hip-Hop-Legende“ im Programmheft. Eine dieser Legenden, der mittlerweile 50-jährige Torch, sitzt nun an einem Mittwochabend Anfang April 2022 auf einer Bühne des Technoseum in Mannheim und erinnert sich, während sein alter Kumpel Toni-L im Publikum lächelt und nickt. An rauschende Partys bei Torch zu Hause in der Hauptstraße 84, an Hip-Hop-Jams überall in Deutschland schon Jahre vor dem Durchbruch.

Advanced Chemistry hatten sich 1987 gegründet. Die Hip-Hop-Welle schwappte aus den USA und besonders aus New York auch in andere deutsche Städte, aber in Heidelberg kam die Kultur, kamen das Rappen, das Sprayen, das Breakdancen wegen der hier stationierten Amerikaner sicher besonders früh an. Eine lebendige Szene bildete sich, mit Advanced Chemistry, dem Produzenten Boulevard Bou, den Stieber Twins, der Rapperin Cora E., die 1997 den Hit „Schlüsselkind“ hatte und später mit Sabrina Setlur und Moses Pelham zusammenarbeitete: In Frankfurt entstand Mitte bis Ende der 1980er-Jahre ebenfalls eine lebendige und später zeitweise kommerziell sehr erfolgreiche Hip-Hop-Szene.

Die CD ist museumsreif

Im Technoseum ist bis 19. Juni die große Landesausstellung „Arbeit & Migration“ zu sehen, und ihre Besucher hören das Lied „Fremd im eigenen Land“, die CD ist jetzt museumsreif. Den Song, dessen englische Version sie schon drei Jahre lang bei Jams gespielt hatten, habe keine Plattenfirma veröffentlichen wollen, erinnert sich Torch – später wird er als DJ Haitan Star karibische Songs auflegen und das Publikum zum Tanzen auf den Bahnschienen im Untergeschoss des Museums bringen. Weil also niemand Advanced Chemistry zu akzeptablen Bedingungen unter Vertrag nehmen wollte, nahmen die Jungs aus Heidelberg die Sache selbst in die Hand. Mit dem damals geläufigen Instrument einer Telefonkette riefen sie Freunde und Bekannte in ganz Deutschland an und liehen sich kleinere und größere Beträge für die Produktion ihrer Single gegen das Versprechen, später eine CD zu bekommen. „Wir hatten gerade Crowdfunding erfunden“, sagt Torch. „Ohne es so nennen zu können.“

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Pioniere nicht auf bestehende Strukturen zurückgreifen können. Das Lied „Fremd im eigenen Land“ wurde aufgrund von Hörerwünschen von vielen Radiosendern gespielt, das Video lief im seinerzeit extrem wichtigen Musikfernsehen, später moderierte Torch zeitweise auf Viva die Sendung „Freestyle“. Aber lange währte der kommerzielle Erfolg nicht, Advanced Chemistry wurden von den zeitgleich mit „Die da!?!“ startenden Fantastischen Vier aus Stuttgart meilenweit überholt, die bis heute im Pop-Business etabliert sind. „Wir waren mal Stars. Die Karriere ist vorbei, das war's. / Ihr rockt die Charts und wir hocken in den Bars“, rappen Torch und Toni-L im Jahr 2000 in dem Song „Wir waren mal Stars“ auf Torchs Soloalbum „Blauer Samt“. Dieses Album gilt als weiterer Meilenstein des deutschen Hip Hop. „Und wenn ich auf Deutsch rappe, dann tu ich das wegen Torch“, bekennt Jan Delay in dem Song „Schelle“ vom Album seiner Band Beginner aus dem Jahr 2016, das sie den Heidelberger Pionieren zu Ehren „Advanced Chemistry“ genannt haben. Der Rapper Fler aus dem Umfeld des Berliner Labels Aggro Berlin hatte schon 2008 sein Album „Fremd im eigenen Land“ genannt. Linguist, der sich früh aus der Musikszene verabschiedende Dritte im Bunde, der heute wirklich als Sprachwissenschaftler arbeitet, sei ein großes Vorbild gewesen, bekannte vor zwei Jahren bei ihrem Auftritt bei „Lesen Hören“ in der Alten Feuerwache in Mannheim Reyhan Sahin, bekannt als Rapperin Lady Bitch Ray – und als promovierte Linguistin.

Zentrum für Hip-Hop-Kultur geplant

In der Hip-Hop-Szene genießen Advanced Chemistry einen unbestrittenen Pionierstatus. In der breiten Öffentlichkeit nicht unbedingt. Das soll nun eine Institution in Heidelberg ändern, die in den vergangenen zehn Jahren schon als Hip-Hop-Museum und Hip-Hop-Archiv angekündigt worden ist und nach aktuellem Stand ein Zentrum für Hip-Hop-Kultur werden soll, das genaue Konzept ist noch nicht bekannt. Gemeinsam mit dem Schweizer Hip-Hop-Experten Bryan Vit arbeitet Torch, der selbst seinen Lebensmittelpunkt inzwischen in Zürich hat und in Rottweil das Label 360 Grad Records betreibt, mit wissenschaftlichem Anspruch an einem Hip-Hop-Archiv, wie er in Mannheim erzählt. Rund 5000 Gegenstände aus seinem und vor allem Torchs Fundus übergab Toni-L im Januar 2020 an das Heidelberger Stadtarchiv: Schallplatten, Klamotten, Flyer, Zeitschriften – und grüne Reisepässe mit dem goldenen Adler drauf. 

Es handelt sich hierbei um einen älteren Artikel. Der Text ist am 18. Aprill 2022 zum ersten Mal erschienen. Durch die aktuelle Nachrichtenlage ist das Thema wieder in der Vordergrund gerückt und wir möchten ihn unseren Lesern erneut anbieten. Alle Informationen und Aussagen entsprechen dem damaligen Stand und wurden seitdem nicht aktualisiert.

Pionier des deutschen Hip Hop: Rapper Torch, heute 50.
Pionier des deutschen Hip Hop: Rapper Torch, heute 50.
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