Kultur Dschihad für das Deutsche Reich

An Zufällen und Absurditäten des Alltags interessiert: Der in Leipzig geborene Schriftsteller und Arzt Jakob Hein.
An Zufällen und Absurditäten des Alltags interessiert: Der in Leipzig geborene Schriftsteller und Arzt Jakob Hein.

Eine überaus kurios wirkende Episode aus dem Ersten Weltkrieg beleuchtet der Berliner Autor Jakob Hein in seinem Roman „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“: den Versuch des deutschen Militärs, die muslimische Welt anno 1914/15 zum Dschihad zu bewegen – damit das Deutsche Reich den Krieg gegen England, Frankreich und Russland gewinnen möge.

In der Berliner Archenhold-Sternwarte am Treptower Park stellt Jakob Hein seinen neuen Roman vor, ein mit bedacht gewählter Ort – nicht nur, da sein Protagonist Stern heißt. Das weltweit größte bewegliche Fernrohr auf dem Dach der 1896 eingeweihten Volkssternwarte erinnert an eine Kanone, und zur Spielzeit des Romans hielt hier Albert Einstein seinen ersten öffentlichen Berliner Vortrag zur Relativitätstheorie. Vor allem aber liegt am Treptower Park das im Roman eine Rolle spielende Kasernengelände, in dem heute das „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ von BKA und Verfassungsschutz sitzt, wie Hein am Romanende notiert: Für den stets an Zufällen und Absurditäten des Alltags interessierten Autor, schließt sich so ein Kreis. Der zunächst über die allsonntägliche Berliner Leseplattform „Reformbühne“ bekannt gewordene Autor und Arzt, hat viel recherchiert, legt seinen Roman daher auch vielstimmig an. Und verzichtet ganz auf den für seine bisherigen Werke so typischen humorvollen Ton. Schließlich ist die erzählte Kriegstaktik-Episode schon ironisch genug. Tatsächlich hatte sich das Deutsche Reich 1914 bemüht, den mit den sogenannten Mittelmächten verbündeten türkischen Sultan dazu zu bewegen, den „Heiligen Krieg“ auszurufen. Der Gedankengang: Wenn sich die Muslime der französischen und englischen Kolonien sowie die Tataren des russischen Reichs auflehnen, endet der Krieg – und die Deutschen würden als Verbündete der Muslime verschont und damit Sieger. Ersonnen hat den Plan der jüdische (!) Orientalist und Diplomat Max von Oppenheim. Und um dem türkischen Sultan vorzuführen, wie wohlgesonnen die Deutschen Muslimen gegenüber sind, war man tatsächlich mit 14 französischen Kriegsgefangenen muslimischen Glaubens nach Konstantinopel aufgebrochen. Die Männer waren von Frankreich zuvor in ihren Heimatländern Marokko oder Tunesien zwangsrekrutiert worden. Im deutschen „Halbmondlager“ südlich von Berlin, wo später gar eine Moschee gebaut wurde, aber wurden sie bestens versorgt und vom Wohlwollen der Deutschen überzeugt. Jakob Hein beschreibt die Planung und die Zugreise nach Konstantinopel unter der Führung von Leutnant Stern, getarnt als Zirkustruppe: eine Episode, die im Vorjahr auch Albert Ostermaier in sein Stück „Glut. Siegfried von Arabien“ für die Wormser Nibelungenspiele eingebaut hatte. Ostermaiers Text aber kennt Jakob Hein nicht, wie er im Gespräch überrascht berichtet. Vielmehr ist er dem Thema auf einer Recherchereise durch Israel begegnet. Der Roman lebt natürlich vor allem von der bitteren Ironie, dass heute tatsächlich Teile der muslimischen Welt sich zu einem „Heiligen Krieg“ berufen fühlen. Und so stellt sich durchaus ein Unwohlsein ein beim Lesen von Zeilen wie: „Aber ist es nicht auch für uns als christliche Nation gefährlich, wenn die Muslime der Welt sich erheben?“ Stern, ebenfalls Jude, richtet sie im Roman an seinen Vorgesetzten. Der Arabienkenner Schabinger von Schowingen antwortet: „Wenn sich die Muslime der Welt gegen ihre Unterdrücker erheben, ist das ganz großartig für das Reich.“ Jakob Hein wählt eine Sprache und einen Tonfall, die an den militärischen Duktus der Zeit erinnern sollen. Doch wirkt das Ergebnis mitunter etwas spröde. Zwar beschreibt der 46-jährige gebürtige Leipziger seine Schauplätze lebendig, doch nicht alle Figuren werden greifbar. Gelungene Porträts aber gelingen ihm mit den Hauptfiguren: Sein Leutnant Stern ist ein ehrenhafter, menschenfreundlicher Taktiker mit Hang zum Abenteuer. Und der Berber Tassaout erscheint als optimistischer Wanderer durch die Welten, dessen Herzensbildung ihm die nötige Erdung gibt, um sich nicht selbst zu verlieren. Und so fiebert der Leser doch mit, ob die Reise mit der „Bagdadbahn“ gerade durchs bereits feindlich gesinnte Rumänien gut gehen kann. Stark sind auch die Szenen in Konstantinopel, die von dem immer stärker um sich greifenden türkischen Hass auf die Armenier erzählen. Hein spart hier auch nicht die unrühmliche Rolle der deutschen Diplomatie aus. So ist „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ ein Buch, das auch zur Einordnung der Verwerfungen unserer heutigen Zeit dienen kann. Wohler fühlen sich Autor und Leser aber dennoch mit Stoffen, die näher an Heins Erleben liegen wie zuletzt die Nachwende-Eulenspiegelei „Kaltes Wasser“. Lesezeichen Jakob Hein: „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“; Roman; Galiani Berlin; 244 Seiten; 18 Euro.

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