Medien Die neue „Titanic“-Chefredakteurin Julia Mateus im Interview

Satire ist eine Kunsform, „die Widersprüchen mit Komik begegnet“, sagt „Titanic“-Chefredakteurin Julia Mateus.
Satire ist eine Kunsform, »die Widersprüchen mit Komik begegnet«, sagt »Titanic«-Chefredakteurin Julia Mateus.

Julia Mateus ist die erste Chefredakteurin der „Titanic“. Im Gespräch mit Wolfgang Scheidt erzählt sie von der Suche nach dem endgültigen Witz, wie Social Media das Humorgeschäft beeinflusst, was Nischen-Satire von Jan Böhmermanns Ansatz unterscheidet und warum Olaf Scholz ein begehrtes Satire-Objekt ist.

Frau Mateus, ist Till Eulenspiegel Ihr Vorbild, wie er als Schalk des 14. Jahrhunderts mit Schabernack und Spottdichtung Missstände anprangerte?
Nein, nicht ganz. Satire kann durchaus Kritik äußern und Missstände anprangern, aber ich sehe das nicht als ihre Hauptaufgabe. Sie ist eine Kunstform, die Widersprüchen mit Komik begegnet. Als solche kann sie zum einen dem Ernst etwas entgegensetzen und zum anderen Kritik üben sowie Machtverhältnisse infrage stellen. Trotzdem finde ich, dass der Satire als Kunstform kein konkreter Nutzen abzuverlangen ist, auch nicht unbedingt das Anprangern von Missständen.

Dennoch gingen Sie früh andere Wege: Mit vier Jahren verließen Sie den Kindergarten, bastelten sich eine eigene Zeitschrift namens „Unterrock“. Lasen sie lieber „Mad“ oder „Bravo“?
Na ja, vom Kindergartenabbruch bis zum „Unterrock“ brauchte es noch einige Jahre, da war ich in der 6. Klasse. Zwischendurch hatte ich schon ein paar Printmagazine in der Hand gehabt, zum Beispiel die „Bravo“, Lifestyle-Hefte wie „Tempo“ oder den „Spiegel“. Manche Texte darin und auch die Kombination mit den Bildern haben mich fasziniert. Einige Ausgaben habe ich lange aufgehoben, sehr zum Ärger meiner Eltern. Der Hefte-Stapel in meinem Zimmer wurde immer höher. Satiremagazine habe ich aber erst mit Anfang 20 gelesen.

In Ihrer Masterarbeit beschäftigten Sie sich dann mit satirischer Medienkritik. Fehlt uns Deutschen der sechste Sinn für Humor?
Dass die Deutschen keinen Humor haben, wirkt auf mich eher wie ein Klischee. Aber eine gewisse Erwartungshaltung an Satire, dass sie nicht nur belustigen und kritisieren, sondern einen konkreten Nutzen, eine politische Wirkung haben soll, die ist hierzulande definitiv vorhanden. Diese Haltung hängt meiner Meinung nach schon mit der deutschen Kultur zusammen.

„Dass die Deutschen keinen Humor haben, wirkt auf mich eher wie ein Klischee“, sagt Julia Mateus.
»Dass die Deutschen keinen Humor haben, wirkt auf mich eher wie ein Klischee«, sagt Julia Mateus.

Profitiert Satire von den Entwicklungen im Bereich Social Media?
Ja, insgesamt gibt es heute viel mehr humoristische Produktionen als noch vor zehn, 15 Jahren. Schon die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender sind voll davon. Das finde ich an sich nicht schlecht, Jan Böhmermann, zum Beispiel, schaue ich gern. Dadurch, dass solche Formate sehr präsent sind, haben sie jedoch auch einen starken Einfluss darauf, was als Satire wahrgenommen wird.

Das „ZDF Magazin Royale“ und die „Titanic“ laufen beide unter dem Label „Satire“. Allerdings verfolgen sie sehr unterschiedliche Ansätze. Böhmermann ist journalistischer, „Titanic“ künstlerischer. Bei uns gibt es endgültige Satire. Wir bieten ein größeres Spektrum an Humorarten, auch Abseitiges und Nonsens finden ihren Platz. Dafür bedienen wir nur die Nische und Böhmermann ein Massenpublikum.

Das heißt, Böhmermann oder die „Heute-Show“ bieten „Satire to go“?
Nicht unbedingt. Aber Fakt ist: Durch die sozialen Medien können heute alle rund um die Uhr Gags raushauen. Da passiert es schon mal, dass Themen für uns langweilig werden, weil sie im Netz schon zu sehr durchgewitzelt wurden. Bei manchen Medienereignissen weiß man schon: Da gibt es gleich einen Wettbewerb um den schnellsten Gag. Und man weiß, wer sich daran beteiligt.

Früher schämte man sich, wenn man eine Pointe nicht verstand. Heute ist der Witz oder sind die Witzeerzähler schuld. Warum ist das so?
Persönlich bevorzuge ich ein Publikum, das sich leise schämt, wenn Witze nicht verstanden werden. Aber soziale Medien bieten die Möglichkeit, sich in so einem Fall direkt zu Wort zu melden. Dann kritisieren manche lieber den Witz. Weil Humor als sozial erwünscht gilt, möchten sie nicht so gern zugeben, ihn nicht verstanden zu haben oder damit nichts anfangen zu können. Obwohl ich es gar nicht so schlimm fände, wenn jemand sagen würde: „Ist nicht mein Ding, diese Art von Humor.“

Hinzu kommt, dass inzwischen auch viele Unternehmen auf humorvolle Social-Media-Kommunikation setzen und diese sich dann meistens entschuldigen, wenn ein Witz nicht gefällt. Dadurch entsteht eine gewisse Erwartungshaltung, dass auf Beschwerden eingegangen wird. Aber dies führt auch manchmal zu lustigen Reaktionen auf unsere Inhalte. Wenn jemand unter den Post eines Satiremagazins schreibt „Euer fucking Ernst?!“, hat das auch eine gewisse Komik.

Apropos Komik. Loben die Adressaten der lange von Ihnen betreuten Rubrik „Briefe an die Leser“, in der Prominente und Institutionen verballhornt werden, Ihren guten Humor?
Also daran, dass ein Brief an die Leser von mir bei einem Empfänger mal gut angekommen wäre, kann ich mich eigentlich gar nicht erinnern. Es gab mal eine ziemliche heftige Reaktion vom Ex-Piraten- bzw. Ex-SPD-Politiker Christopher Lauer auf einen Brief von mir, in dem es um ein Zitat von ihm ging. Da hat er sich dann in zehn, 15 Tweets darüber aufgeregt, wie unlustig „Titanic“ wäre und uns beschimpft.

Über sich selbst zu lachen, fällt schwer. Wie ist es bei Ihnen, seit Sie vergangenen Oktober als erste Frau „Titanic“-Chefredakteurin wurden? Fühlen Sie sich als „Jeanne d’Arc der Satire“?
Jeanne d’Arc ist bekanntermaßen auf dem Scheiterhaufen gelandet. Pietätlos, RHEINPFALZ! Aber vielleicht sollte ich anfangen, mich mit solchen Figuren zu identifizieren. Die Medienbranche braucht dringend mehr Frauen mit Gottkomplex.

Haben männliche Leser und Mitarbeiter Angst vor einer humorvollen Frau und versuchen sie vielleicht gar, Ihnen Witze zu erklären?
In der Redaktion zum Glück weniger, aber es gibt tatsächlich freie Autoren, die nach einer Absage noch mal nachhaken, ob ich den Witz auch wirklich richtig verstanden habe. Oder der Klassiker: Wenn ich in der Kneipe mit Männern zusammensitze und einer von ihnen macht einen Witz, sagt ein anderer zu mir: „Das war jetzt aber ein Scherz, nicht so ernst nehmen“. Und mache ich mal in sozialen Medien einen Witz, wird er von einigen, meist älteren Männern, nicht als solcher verstanden, sondern als ernsthafte Aussage, weil es sie es für wahrscheinlicher halten, dass eine Frau im Internet den letzten Schwachsinn schreibt, als dass sie einen Witz macht, auch wenn es sich um die „Titanic“-Chefin handelt.

Welches sind denn in Ihrer neuen Position Ihre redaktionellen Hauptaufgaben?
Morgens Konferenzmarathon, gemeinsames Meditieren, auf Facebook abhängen, nachmittags dann ein Ausflug in die Frankfurter Innenstadt und ziellos durch Karstadt irren. Danach Redigat, bei dem ich alle Texte der Redakteurinnen und Redakteure noch mal umständlich umschreibe und jeden mühsam zuvor korrigierten Fehler wieder einsetze, plus ein paar neue. Für jeden Witz, der mir missfällt, gieße ich dann noch kleines Fässchen Altöl in den Ausguss, eine Art Ritual. Abends Gebembel mit Entscheidern aus der Region.

Das klingt gut! Humor muss sitzen. Wer oder welche Themen sind für Satire Ihrer Meinung nach denn prädestiniert?
Der Tod ist mein liebstes Satirethema. Weil er sehr mächtig und zum Teil immer noch tabuisiert ist. Und er hat viele Facetten. Ähnliches trifft auf Olaf Scholz als Satire-Objekt zu. Allein seine Ausstrahlung und Mimik: Mal stoisch hanseatisch, mal verkniffen, mal schelmisch-kindlich, dann wieder tölpelhaft. Und er steht für viele Themen: Brechmitteleinsatz, G20, Cum-Ex, Zauderkurs… Da lässt sich viel draus machen. In meinem ersten Heft als Chefredakteurin im Dezember 2022 hatten wir einen Fotoroman über eine Scholz-Chinareise, den ich immer noch sehr mag.

Beliebt bei Julia Mateus ob des satirischen Potenzials: Olaf Scholz.
Beliebt bei Julia Mateus ob des satirischen Potenzials: Olaf Scholz.

Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Humor?
Beim Humor gibt es, meiner Meinung nach, keinen geschlechtsspezifischen Unterschied. Er ist immer individuell und von dem Blick abhängig, mit dem man die Welt sieht. Viele Witze erfordern ein gewisses Vorwissen und werden daher nur von einer bestimmten Gruppe verstanden. Manchmal braucht es auch eine gewisse Distanz, um über eine Pointe lachen zu können. Man lacht lieber schadenfroh über andere als über sich selbst.

Warum werden alle Inhalte der „Titanic“ vor der Veröffentlichung von einer Rechtsanwältin auf Ihre juristische Unanfechtbarkeit geprüft?
Da geht es vereinfacht gesagt meistens darum, dass wir nicht aus Versehen vergleichsweise unwichtige Politikerinnen und Politiker, Promis oder Unternehmen justiziabel beleidigen und es Titanic dann Geld kostet. Das wollen wir vermeiden.

Verständlich. Sind Cartoons von Friedrich Merz mit der Frage „Knallen die Amis auch diesen Ballon ab?“ oder ein Hefttitel wie „Putin beliebter als Scholz“ von der Kunstfreiheit gedeckt?
In den allermeisten Fällen schon. Und in der Redaktion gibt es keine vorher festgelegten Grenzen. Von mir nicht, und der Verlag hat inhaltlich nichts zu sagen. Wir sitzen auch nicht da und überlegen systematisch: „Was wäre jetzt die schlimmstmögliche Interpretation dieses Witzes?“ Was geht und was nicht, das entscheiden wir nach Gefühl. „Titanic“ sucht den endgültigen Witz, das würde mit starren Grenzen nicht funktionieren.

Woher wissen Sie, welche Witze gut ankommen und gut für die Auflage sind?
Das wissen wir eigentlich gar nicht, weil „Titanic“ keine Marktforschung betreibt. Wir behandeln die Themen, auf die wir selbst Lust haben und machen das Heft, das wir selbst lustig finden. Beim Cover schaut man schon mal: „Ist das Motiv titelig?“ Aber als Einnahmequelle sind die Abos ohnehin wichtiger, weil aus einem Jahres-Abo deutlich mehr Geld in die Redaktion fließt als von zwölf verkauften Heften.

Die „Titanic“ verkauft im Schnitt 37.000 Heft pro Monat, die Hälfte der Leser sind Abonnenten. Wie sehr kämpft die „Titanic“ ums Überleben – oder ist sie unsinkbar?
„Titanic“ möchte das letzte Printprodukt auf dem Markt werden, dem sind wir mit den jüngsten Entwicklungen bei Gruner und Jahr wieder etwas näher gekommen. Dadurch, dass „Titanic“ schwierige Zeiten gewohnt ist, fällt ihr das Überleben etwas leichter. Eine depressive Chefredakteurin an ihre Spitze zu setzen, war so gesehen folgerichtig. Dennoch sollten mal wieder ein paar neue Abos dazukommen, sonst sind wir bald auf staatliche Maßnahmen angewiesen.

Ein Gesetz, das Lehrpersonal verpflichtet, einen unserer Kolumnenschreiber oder eine Redakteurin zu heiraten, damit sie abgesichert sind, könnte helfen. Allerdings sind in unserem Umfeld schon sehr viele mit Pädagoginnen und Pädagogen verheiratet, außerdem sind die ja auch gerade so knapp, da wären ein paar Abos wohl das krisensichere Modell.

Zu den humoristischen Stilmitteln des Heftes gehören Karikaturen, humoristische Zeichnungen und Comics. Sagen satirische Bilder mehr als Worte?
Das kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall sind Zonen-Gaby, Birne und der Papst-Titel auch außerhalb der „Titanic“-Nische sehr bekannt, das ist für einen Text schon eher schwierig. Was den Reiz von „Titanic“ ausmacht, ist meiner Meinung nach der Mix aus verschiedenen Darstellungsformen, Fotos, Cartoons und Comics. Das wäre in der Form online nicht möglich.

Vor 44 Jahren wurde die „Titanic“ von Vertretern der „Neuen Frankfurter Schule“, einer Gruppe von Schriftstellern und Zeichnern, gegründet. Wieviel Erhellendes enthält die dunkelste Satire heute?
Satire kann ein Stück weit Entlastung schaffen, auch bei sehr ernsten Themen. Im Heft hatten wir gerade ein Krieg-Spezial mit einem Psychotest zu der Frage: „Bin ich im Krieg mit Russland?“. Da kann man seine persönliche rote Linie bestimmen und lernen, Putins Mimik richtig zu lesen.

Frau Mateus, als Grande Dame des Humors können wir Sie nicht entlassen ohne dass Sie Ihren Lieblingswitz erzählen.
Immer der aktuelle Titanic-Titel!

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