Alltag Die Einsamkeit im Hubba-Bubba-Land: Plötzlich gibt es Wrigley’s nicht mehr in Streifen

Mit Silberstreif für den weiteren Horizont: Das Original.
Mit Silberstreif für den weiteren Horizont: Das Original.

Schluchz! Ein Hilferuf. Wer soll sich da noch zurechtfinden? Wrigley’s Spearmint Kaugummis werden nicht mehr als Streifen verkauft. Toblerone hat das Matterhorn auf der Schachtel verloren. Statt Nestea gibt es Eistee des Rappers Capital Bra.

Für die, die es vergessen oder nie erlebt haben, aber bis vor Kurzem ließen sich einzelne Kaugummis auf appetitliche Weise teilen. Durch einen Riss oder romantischere Varianten, die Teilungsverhältnisse Indiz der jeweiligen Egomanie. Direkt anfassen war nicht nötig, die Steifen der „Wrigley’s Spearmint“-Kaugummis sind von dünnem Silberpapier mit gezacktem Rand umhüllt gewesen. Nun ist auch dieser Drops gelutscht. Die Firma Mars, der die Marke Wrigley seit 2008 gehört, vertickt nur noch Dragees in klackernden Dosen, zu groß für rückseitige Hosentaschen. Der Riss geht jetzt – ein bisschen – durch unser Nachkriegskinder-Herz. Wie bei vielem, das verschwindet und uns mit gelebter Lebenszeit eindringlich verbunden hat.

Das Rolltreppenfahren im Warenhaus, die Oase der „Punica“-Werbung, die nicht mehr aufploppt. Sunkist, weg. die Fernseher der Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt (Saba), die Commodore Computer „For the masses, not the classes“. Nestea ist seit Ende März raus aus den Regalen. Dafür gibt es jetzt Eistee von Rapper Capital Bra. Nach 75 Jahren, wieder eine Verbindung gekappt, die über sich hinausweist.

23 Tonnen Kaugummi

Was die Spearmint-Streifen des früheren Seifenfabrikanten Wrigley betrifft, lässt sich sogar eine Kulturgeschichte durchkauen, die bis zur vorvergangenen Jahrhundertwende und an die von Coca Cola heranreicht. Juicy Fruit ist in den USA seit 1893 auf dem Markt, Spearmint seit 1899. 1915 wurden die Kaugummis an alle geschickt, die einen Telefonanschluss hatten. US-Soldaten trugen sie im Ersten und Zweiten Weltkrieg im Tornister. Knatschende GIs mit deutschen Frolleins im Arm, ein ikonisches Bild nach 1945. Deutschland wurde regelrecht überschüttet.

Allein während der Berlin-Blockade 1948/1949 warfen die Rosinenbomber der Alliierten 23 Tonnen Kaugummis über Berlin ab. Packungen voller „Wrigley’s Spearmint“, von US-Soldaten gastgeschenkt, wurden als Verheißung einer nach „großer, echter Frische“ schmeckenden neuen Zeit in Münder und Hosentaschen gestopft. Und während eine 1925 im Frankfurter Ostend etablierte „Wrigleys Pfefferminz Kaubonbon“-Fabrik recht kurz danach den Main runterging, blieben die Dinger, die mit der Apollo 11 bis zum Mond flogen und Testobjekt der ersten Scannerkasse überhaupt waren, eine generationsübergreifend archivierte kulturelle Erfahrung.

Sie machen weniger einsam

Die Choreografien der Abwicklung, Teilung und Kussinitiierung, ob der Streifen noch leicht aus den Lippen lappt – oder eben nicht. Wie dann gekaut wird, leicht offenen Munds, grimmig, vornehm. Die Blasen, die viel schwieriger zu produzieren waren, als mit den Bazookas, die es auch schon nicht mehr gibt. Die jetzt ferner werdende Erinnerung ist mehr als pure Nostalgie – eine Empfindung mit Folgen. Denn, wer Retro-Produkte konsumiert, fanden die US-Forscher Loveland, Smeeters und Mandel heraus, überquert eine Brücke zur Vergangenheit und schaut weit über sich hinaus. Weniger einsam ist er auch.

Sie ließen Probanden am Bildschirm Ball spielen – in Gruppen. Die einen wurden nie, die anderen öfter angespielt. Anschließend sollten die Teilnehmer Produkte bewerten. Die Ausgeschlossenen bevorzugten Retroprodukte stärker als die Integrierten – und zwar signifikant. Mehr noch, als die benachteiligten Befragten Retro-Kekse essen durften, war ihr Frust verschwunden. „Allem Anschein nach“, mutmaßten die Forscher, „vermittelten die Produkte aus der Vergangenheit ein Gefühl der Zugehörigkeit“.

Retro gegen die Traurigkeit

Dabei spielte nicht einmal eine Rolle, ob die Teilnehmer die Retroprodukte aus ihrer Kindheit kannten. Das Wissen, dass etwas schon lange populär war, hat genügt, um sich als Teil von etwas Größerem, weiter als man selbst Reichendem zu fühlen. „Der Konsum von Retro-Produkten mildert die negativen Emotionen“, folgerten 2017 auch Sarial-Abi, Vohs und Hamilton aus einer ihrer Studien. Selbst verstörende Erkenntnisse wie die der eigenen Sterblichkeit und der noch viel viel geringeren als staubkorngroßen Bedeutung im Weltenlauf ließen sich demnach leichter verkraften, gäbe es noch Banjo-Schokoriegel, Florida Boy zu trinken. Für die sehr viel Älteren, hieße Twix wieder Raider.

Selbst, was es mit uns macht, dass auf der Toblerone-Verpackung jetzt das Matterhorn entfernt werden musste, weil die Schokolade nicht mehr in der Schweiz, sondern der Slowakei produziert wird, ist noch nicht im ausreichenden Maß erfasst. Um ganz von den tiefenpsychologischen Konsequenzen des Wrigley’s-Spearmint-Streifen-Exodus zu schweigen. Es wird viele Einsame geben, die im Hubba-Bubba-Land um sich selbst kreisen. Schluchz!

Noch ist das Matterhorn drauf: Toblerone-Schokolade.
Noch ist das Matterhorn drauf: Toblerone-Schokolade.
Neue Generation: Mit den Streifen-Wrigley’s waren Blasen viel schwieriger zu produzieren. Dafür waren sie cooler zu benutzen.
Neue Generation: Mit den Streifen-Wrigley’s waren Blasen viel schwieriger zu produzieren. Dafür waren sie cooler zu benutzen.
Der Schmerz, wenn etwas untergeht: Commodore-PC.
Der Schmerz, wenn etwas untergeht: Commodore-PC.
Rosinenbomber, die Kaugummis abwarfen.
Rosinenbomber, die Kaugummis abwarfen.
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