Auszeichnung Dichterin mit Sonnenschirm: Nora Gomringer bekommt die Zuckmayer-Medaille des Landes

„Nora Gomringer macht ein Gedicht. Aus“: Die Preisträgerin.
»Nora Gomringer macht ein Gedicht. Aus«: Die Preisträgerin.

Als Nora Gomringer acht war, kaufte Günter Grass ihr in der Akademie der Wissenschaften eine Tafel Schokolade. Als sie auf ihren berühmten Dichtervater wartete. Im Foyer.

Die Mutter, eine Germanistin, Künstlerin, Sprachforscherin, las ihr bis zum Exzess vor, in der Badewanne liegend, rauchend, eine Zigarettenspitze in der Hand. Sie hieß Nortrud und ist vor Kurzem gestorben. Sie lehrte sie, Sätze wie rohe Eier zu behandeln. Vater Eugen, der Schweizer Miterfinder der konkreten Poesie, bedichtete ihre, Nora Gomringers Geschwistersituation folgendermaßen: „Junge Junge Junge Junge / Junge Junge Junge Mädchen“. Sieben Brüder. Das erkläre, erklärt sie bisweilen, warum sie eher „laut“ auftrete als leise zu bleiben.

Eugen Gomringer wird am 20. Januar 96, Glückwunsch mit Trara. Jeder Buchstabe ist bei ihm und für sie: eine schöne Macht. Er unterstreicht das auch – grafisch. Nora Gomringer geht die Sache lautmalerisch an.

Ein Wesen aus Text gemacht

Sein langer Schatten, sie nennt ihn lieber „Sonnenschirm“. Zusammen sind sie Poetik-Dozenten an der Universität Koblenz-Landau gewesen. Was nicht so bekannt ist: Als am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center die Flugzeuge der Terroristen einschlugen, war sie im 12. Stock unterwegs. Eine Praktikantin des Leo Baeck Instituts. Furchtlos jetzt? So sehr, sagt sie, dass es anfangs danach manchmal gefährlich wurde.

In der Psychologie spricht man vom „Fearless Syndrom“, das Überlebende überfällt. Das Wagnis ist bei der Dichterin ein wesentliches Element geblieben. Geboren 1980. In Neunkirchen, Saar. Aufgewachsen hauptsächlich in Oberfranken. Deutsch-Schweizerin. Lacht aus dem Herzen. Singt sehr gut. Schauspielert enthusiastisch. Denkt wild. Dichtet aus nichts Weltbewegendem Großes. „Ein Wesen, aus Text gemacht“, sagt Nora Gomringer von sich selbst.

Monstergedichte, „achduje“

Mit 20 der erste Gedichtband. Inzwischen sind neun daraus geworden, jedem ist eine von ihr eingesprochene CD beigelegt. Titel wie „Mein Gedicht fragt nicht lange“, „achduje“. In „Monster Poems“ ging’s um Vampire, Drachen, Riesenaffen, Haie, Mumien. In „Morbus“ schon einmal um bleischwere Depressionen. Der Titel „Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren“, ist pure Koketterie.

„Gottesanbeterin“ heißt ihr neuestes Buch. Eine Selbstbeschreibung auch? „Meine Gottgläubigkeit ist in einem ruhigen Kinderzimmer meines Gehirns abgespeichert, da passieren keine Stürme“, sagt sie dazu im „Chrismon“-Interview.

In einem Gedicht über Herpes heißt es: „Ich küss dich/ du küsst mich/ kommt’s auf uns“. Sie ist eine frühe Heldin des Poetry Slam, eine Spoken-Word-Größe. „Wenn ich groß bin, bin ich groß/ Wenn ich klug bin, bin ich klug“, dichtet sie. Eine Erneuerin, ganz der Vater. Sie ist für ihre Rasanz berühmt. Das Schalkhafte, Augenzwinkernde. Die heitere Lyrik. Eine leichte Schwere. Die Selbstironie. Dass es, wie etwa auf Youtube zu erleben, ihre Text zum Ereignis drängt.

Selbst Wunderkind Clemens Setz ist ein Fan

Kritiker-Guru Denis Scheck („Druckfrisch“) sagt, sie sei eine der großen Sprachartistinnen der Gegenwart. Literatur-Wunderknabe Clemens Setz fühlt sich von ihr höchstpersönlich „gemeint“. Sie hat Essaybände geschrieben, mit Philipp Scholz das Jazzalbum „Peng Peng“ herausgebracht. Ein Opernlibretto vorgelegt, ein Theaterstück über einen Schweinemogul verfasst. Sie sendet in den sozialen Medien auf allen Kanälen. Ihr Tag muss 28 Stunden haben. Denn seit 2010 ist Nora Gomringer auch noch Chefin des international renommierten Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Es heißt, dass ihr die Stadt zu Füßen liegt.

Sie hat 18 Preise bekommen, den Ringelnatz-Preis, den Jacob-Grimm-Preis. 2015 gewann sie mit der beißend komischen Sozial-„Recherche“ über den Todessturz eines 13-Jährigen den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb, was sie immer wollte. Am Montagabend jetzt ist sie in Mainz mit der Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet worden. Für ihre Verdienste um die deutsche Sprache. Per Livestream aus dem Staatstheater wurde das Ganze übertragen. Über allem lag – wie immer in diesen Tagen – ein Anflug von Melancholie. Der Mehltau der Inzidenzwerte, Impfprognosen. Mit Musik (Percussions: Duo-Partner Philipp Scholz) und einem Klassiker hob alles an. Ihrem „Ursprungsalphabet“ von „Ich bin Ariadne, die dem roten Faden, dem wollenen, folgt“ – bis: „Ich bin zynisch, yeah“. Zu: „Ich bin’zzzzzz“.

„Ich höre Applaus“

Lustige Zeichnungen wurden eingeblendet. Im Filmporträt von Alexander Wasner über sie sah man hinter ihr ein Garfield-Stofftier auf dem Sofa sitzen. „Die Welt steht Kopf“, befand die preisverleihende Ministerpräsidentin Malu Dreyer. „Ich höre ihren Applaus“, sagte sie zum fernen Publikum. Und: „Ich bin sehr sehr überzeugt, 2021 wird ein besseres Jahr.“ Nora Gomringer hatte – anders als auf Facebook angedeutet – keinen Hut aufgesetzt.

Ultimative Lobhudelei

Zwei Drachen auf ihrem Blouson schauten sich fauchend an. Im Dreieck saßen Gomringer und Dreyer mit dem Moderator Boris Motzki, der Dramaturg in Mainz und selbst Lyriker ist. Ganz beseelt schien er von einem Essay, das Nora Gomringer in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht hat. Über die Dringlichkeit der Kunst vor, während, nach der Pandemie. Motzki schien gar nicht davon wegzukommen. Die Laudatorin Catrin Prange, die über das Werk der Dichterin promoviert, gab vorab zu: Sie werde jetzt die „ultimative Lobhudelei“ anstimmen.

Ihr Text wurde von der Schauspielerin Lisa Eder vorgelesen. Nicht so richtig gut, zugebenermaßen. Er zitierte Scheck. Zitierte Setz. Als Rahmenhandlung stellte Prange sich darin vor, Nora Gomringer sei Gast in der Sendung „Zimmer frei“ gewesen.

In der inzwischen eingestellten Reihe mit Christine Westermann und Götz Alsmann, wurden Prominente spielerisch auf ihre WG-Tauglichkeit geprüft. In der Prange-Fantasie brillierte Gomringer. Selbstredend. Zitierte 100 Gedichte auswendig, war aufs Schönste kostümiert, löste die Welt in tausend Anekdoten auf. Frenetischer Applaus des Publikums. In den Livestream wurde ein Einspieler mit klatschenden Schauspielern in historischen Kostümen geblendet. Später begleitete die deutsch-brasilianische Filmkomponistin Verena Marisa („Tatort“) geisterhaft in scheinbare Leere greifend auf einem Theremin. In Nora Gomringers Gedicht war Jesus ein Büroangestellter.

Noch einmal mit der Mutter Jive tanzen

Sie hielt eine anrührende Dankesrede, in der sie mit ihrer Mutter Jive zu Hildegard Knef tanzte. In der sie noch einmal Kind war. Die Mutter lebte. Noch einmal besprach sie mit ihr „die schönen Gesichter von Omar Sharif“. Dann dachte sie, was Nortrud Gomringer zu ihrer Zuckmayer-Auszeichnung gesagt hätte, ihre „erste und letzte Leserin“. Die, der sie fast alles verdankt. Kurzes Stocken. Der Preis, ein Fass Wein. Sie Abstinenzlerin. Er sei „würdig und recht“, sagte sie, hätte ihre Mutter gesagt, „aber ...“

Zum Schluss noch führte sie, Philipp Scholz saß dazu am Schlagwerk, ihre Verse über die Bremer Stadtmusikanten auf. Ein Ulk. Ein Spaß. Ein Atmen und Trommeln. Ein Fest aus der gezielten Lamäng. Wie das geht? Um es mit ihren Worten zu sagen: „Nora Gomringer, was macht ein Gedicht aus?/ Nora Gomringer macht ein Gedicht. Aus.“

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