Filmfestspiele Cannes Der zarte Junge aus der traurigsten Kleinstadt in Lothringen

Der zarte zehnjährige Johnny (Aliocha Reinert, vorne) will weg aus der Trabantenstadt in Forbach.
Der zarte zehnjährige Johnny (Aliocha Reinert, vorne) will weg aus der Trabantenstadt in Forbach.

Er hat lange blonde Haare. Er ist zart. Die anderen Jungen in der Schule verprügeln ihn. Doch Johnny will nicht kämpfen, da wo er wohnt: in Wiesberg, dem sozialen Brennpunkt der an sich schon armen, traurigen Kleinstadt Forbach, direkt an der Grenze zu Saarbrücken.

Die Hochhäuser mit 1000 Wohnungen, 1959 bis 1972 entstanden, sind bunt bemalt. Man sieht sie von der Autobahn aus, sie sind sogar nationales Kulturerbe. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort die sozial Schwachen, die dort leben, eigentlich keine Chance haben. Wie Johnny (Aliocha Reinert) in „Petite Nature“ von dem in Forbach geborenen Regisseur Samuel Theis (42).

Als der neue Lehrer kommt, ist er für Johnny ein Exot. Er kommt aus Lyon, Johnny dagegen hat Forbach nie verlassen. Er lebt bei seiner Mutter in Wiesberg und hat fast immer die kleine Schwester im Schlepptau, weil die Mutter arbeitet: Sie verkauft Zigaretten in Saarbrücken.

Johnny ist ein helles Köpfchen, das merkt der junge Lehrer schnell. Johnny sucht seine Nähe, er findet das Haus des Lehrers. Der Lehrer und seine Freundin, die am Centre Pompidou in Metz arbeitet, laden ihn ein: erst in Haus, dann zur Nacht der Museen nach Metz. Johnny ist begeistert, die Kunst gefällt ihm und das Leben jenseits der Trabantenstadt. erst recht.

„Lerne zu kämpfen, lerne zuzuschlagen“, sagt seine Mutter (einen Vater gibt es nicht) und macht es ihm vor. Das ist nichts Johnnys Natur, außerdem entdeckt er noch etwas anders: seine Sexualität. Sie führt dazu, dass er sich sein Shirt auszieht, als er mit dem Lehrer allein bei ihm zu Hause ist. Als er ihn sofort rauswirft, brechen für Johnny gleich drei Welten ein, die kulturelle, die sexuelle und die Chance, seinem Milieu zu entfliehen.

Theis’ erster Film „Party Girl“ (2016, gedreht mit zwei Co-Regisseurinnen, gewann damals in der Nebenreihe „Un certain regard“ und die Goldene Kamera als bester Erstlingsfilm), handelt im Prinzip von seiner Mutter als ungewöhnlicher Frau in einer tristen Grenzstadt, sein zweiter, „Petite Nature“ mehr von ihm: Auch seine Mutter war alleinerziehend, auch Samuel versuchte, Forbach zu entfliehen.

Er hat es geschafft, studierte in Lyon Theater und in Paris Drehbuchschreiben an der Filmhochschule. Was für die Dardenne-Brüder die belgische Kleinstadt Seraing, das ist Forbach für Theis. Deshalb kann er das Schicksal der traurigen Sozialsiedlung so einfühlsam beschreiben.

Die Laiendarsteller holt er aus der Region, aus Forbach und Umgebung und aus Metz. Mélissa Olexa, die Mutter mit den Dreadlockzöpfchen und den Tattoos, ist im wahren Leben Putzfrau in Metz. Man spürt, dass vieles echt ist in diesem ungewöhnlichen Film, der viele Themen auf eine neue Art anschneidet.

Im Gegensatz zu anderen französischen Filmen, die dieses Milieu thematisieren, geht es Theis nicht um die Gewalt der kriminellen Banden, um Jugendliche, die Drogen nehmen, und auch nicht um Formen des Klassenkampfs wie bei den Gelbwesten. Theis erzählt wie es ist, überhaupt eine andere Kultur kennenzulernen. „Ich will dieses billige, schlechte Zeug nicht mehr essen“, schreit Johnny irgendwann seiner Mutter entgegen, die die Welt nicht mehr versteht. Er will auf ein Internat nach Metz gehen, der Lehrer würde das unterstützen. Die Mutter reagiert verständnislos: „Und wer soll auf die Kleine aufpassen, wenn ich arbeitete? Das geht nicht!“

Der Lehrer reagiert auch fassungslos, als Johnny ihm gegenüber sexuelle Neigungen zeigt, dass der Wunsch nach sexueller Nähe nicht von einem Pädophilen, sondern von einem Jungen ausgeht, gab es so im Kino auch noch nicht. Vielleicht gewinnt Theis ja wieder einen Preis, sein wunderbarer hyperrealistischer Film läuft in der Reihe „Semaine de la critique“.

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