Kultur Der Weg ins Chaos

Beim ersten Pro-Arte-Konzert am Donnerstag im Rosengarten gastierte mit dem Leipziger Gewandhausorchester einer der legendären deutschen Klangkörper in Mannheim. Am Pult stand Generalmusikdirektor Andris Nelsons. Als Solistin in Arien aus Tschaikowsky-Opern agierte die Sopranistin Kristine Opolais. Bis zum Frühjahr dieses Jahres waren Nelsons und Opolais noch ein Ehepaar.

Normalerweise sind Pro-Arte-Konzerte bezüglich ihrer Dramaturgie fast schon in Stein gemeißelt. Sie folgen einem Vorbild, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. Zu Beginn gibt es eine Konzertouvertüre, dann kommt das Solo-Konzert, nach der Pause die Sinfonie, meist aus dem romantischen Repertoire. Für die menschliche Stimme ist da eigentlich ebenso wenig Platz wie für die Musik der Gegenwart. Doch am Donnerstag war vieles anders. Das begann schon mit dem ersten Stück des Abends, einer gemeinsamen Auftragskomposition des Gewandhausorchesters und des Boston Symphony Orchestras – Nelsons ist Chefdirigent beider Klangkörper – aus dem Jahr 2014. „Mara“ heißt die Komposition von Andris Dzenitis, die er seinem lettischen Landsmann Andris Nelsons gewidmet hat. „Mara“ ist ein Begriff aus der lettischen Mythologie und umschreibt laut Programmheft quasi die gesamte physische Schöpfung. Das Sein. Und das hört man dem Werk auch an, das gleichermaßen mystisch-sphärische wie expressive Musik ist. Gemäßigt modern bis bewusst konservativ wird ein Klangkosmos entwickelt, der die Existenz von ihrem Anfang bis zum Ende zu beschreiben scheint. Pochende, beharrende Rhythmen führen zu gewaltigen Ausbrüchen, bis das Ganze zur Ruhe kommt. Im Verstummen endet. Im Tod? Es folgte der Auftritt der Diva: Kristine Opolais sang das Arioso der Lisa aus dem ersten Akt der Tschaikowsky-Oper „Pique Dame“ und die Briefszene der Tatjana aus dessen „Eugen Onegin“. Opolais ist ein Weltstar, ist an den großen Häusern zwischen New York, London, Mailand und München unterwegs. Sie hat eine strahlende Stimme und eine faszinierende Bühnenpräsenz, selbst wenn sie auf einem Konzertpodium steht. Aber gerade als Lisa vermisste man warme Töne, vor allem bei ihren Spitzentönen, die wie hinausgeschleudert wirkten. Und auch das begleitende Gewandhausorchester mutete eher uninspiriert an. Als Tatjana gab sie ihrer Stimme dann auch mal die Chance, sich zu verströmen, und schon stellten sich gerade in der Mittellage und im Piano die zuvor vermissten Untertöne ein. Nach der Pause dann ein Titan im wahrsten Sinne des Wortes. Mahlers erste Sinfonie in D-Dur, die eben diesen Untertitel trägt. Das Gewandhausorchester nun in Hochform, und auch Nelsons wirkte nun nicht mehr so merkwürdig gehemmt, schien wie aus einer Umklammerung befreit. Schon der Beginn, dieses Erwachen der Natur, das zum Menschen findet (im „Wunderhorn“-Lied „Ging heut’ morgen übers Feld) war große Kino-Sinfonik. Alles aber steuerte auf das Finale zu, wie bei Beethoven. Nur dass in Mahlers Erster am Ende die fast schon gewalttätige Eruption steht. Das Chaos. Mit voller Kapelle und extremer Lautstärke. Da braucht es schon einen Titanen. Auch am Pult.

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