Kultur „Der deutsche Wortschatz wächst rasant“

Wolfgang Klein.
Wolfgang Klein.

Seit wann gibt es das Wort „liken“? Was meinte man früher mit „sintemal“? Das soll zukünftig in einem digitalen Lexikon stehen, das für jeden im Netz frei zugänglich ist und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Am neu gegründeten „Zentrum für digitale Lexikographie der deutschen Sprache“ (ZDL) wollen Forscher der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften den deutschen Wortschatz und seine Veränderungen umfassend beschreiben. Wolfgang Klein, Professor für Sprachwissenschaft, leitete das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ von Beginn an und ist nun Koordinator am neuen ZDL. Mit ihm sprach Alice Ahlers.

Herr Klein, wie hat sich der deutsche Wortschatz zuletzt verändert?

Er wächst rasant und unaufhörlich. Eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahren noch einmal beschleunigt hat. Der deutsche Wortschatz hat sich immens vergrößert. Wir können sagen, dass er in den letzten 100 Jahren ungefähr um 30 Prozent größer geworden ist. Das entspricht mindestens einer Million neuer Wörter. Wie kommt das? Einerseits durch die Internationalisierung, andererseits dadurch, dass es immer mehr neue Ideen und Dinge gibt, die es früher nicht gab. Mit neuen Erfindungen sind auch neue Handlungen verbunden, die man beschreiben muss. Als die Autos auf die Straße kamen, entstanden jede Menge neuer Wörter rund um das Auto: tanken, parken, Zündkerze, Garage und so weiter. Jetzt gibt es beispielsweise immer mehr neue Wörter aus dem Bereich rund um Smartphone und Internet, die auch sehr häufig gebraucht werden. Sie sagen, der Deutsche Wortschatz wird immer reicher. Anderseits gibt es immer wieder Debatten darüber, dass die deutsche Sprache verarme. Da der Ausdrucksreichtum einer Sprache letztlich auf ihrem Wortschatz fußt, muss man schließen, dass sich das Deutsche zu einem immer mächtigeren Instrument entwickelt hat. Wenn es uns bisweilen so scheint, als würde unsere Sprache verarmen, dann liegt das nicht an der deutschen Sprache, sondern an denen, die von ihr Gebrauch machen. Es reicht nicht, einen Flügel in der Stube stehen zu haben, man muss ihn auch spielen können. Durch den rasanten digitalen Wandel hatten es Wörterbuchmacher in letzter Zeit wirklich nicht leicht, oder? Das Deutsche kann auf eine reiche Tradition der Wörterbucharbeit zurückblicken. Diese Tradition ist durch das Internet in eine ernsthafte Krise geraten. Die von Verlagen geschaffenen großen, oft hervorragenden Wörterbücher konnten nicht fortgeführt werden, weil sie sich wirtschaftlich nicht mehr tragen. Das wird sich leider auch durch uns nicht ändern. Schließlich ist unser Lexikon im Internet frei und kostenlos zugänglich. Sie arbeiten an einem digitalen Wörterbuch, das die deutsche Sprache und ihre fortwährenden Veränderungen umfassend beschreiben soll. Wie geht das? Wir bauen auf dem bereits vorhandenen „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache“ (DWDS) auf, das in seiner jetzigen Form schon um die 400000 registrierte Nutzer hat, darunter Übersetzer, Lehrer, Journalisten und vor allem Deutschlerner in aller Welt. Es wird bereits jetzt jeden Monat etwa vier Millionen Mal aufgerufen. Wonach entscheiden Sie, welche Wörter im Lexikon enthalten sind? Das wird nicht vorab entschieden, sondern wir versuchen, schrittweise soviele Wörter wie möglich unter all jenen zu erfassen, die in unseren Daten – den Korpora – vorkommen. Wir haben zum einen ein sehr sorgfältig ausgewähltes „Kernkorpus“ mit Texten aus Literatur, Wissenschaft, Zeitungen, Gebrauchstexten, zum Beispiel Kochbüchern, insgesamt etwa 200 bis 300 Millionen Wörter Textlänge. Zum andern haben wir ein riesiges digitales Korpus der Gegenwartssprache, das zumeist aus Zeitungsartikeln besteht und etwa zwölf Milliarden Wörter lang ist. Welche Wörter wählen Sie aus? Wir orientieren wir uns vor allem an Häufigkeit und Streuung eines Wortes über verschiedene Textsorten. Sind beide hoch, legen wir einen Vollartikel an, der Informationen zu Bedeutung, Schreibweise, Aussprache, Grammatik, Wortbildung, Herkunft und so weiter enthält. Wir greifen aber auch Vorschläge auf, die von den Nutzern kommen. Wie schon gesagt, kann man nicht jedes Wort im Detail beschreiben. Man kann sich aber für jedes Wort ansehen, wie es in den Korpora verwendet wird. So kann auch jeder selber zum Sprachforscher werden. Sortieren Sie auch Wörter wieder aus, wenn diese nicht mehr gebraucht werden? Nein, wenn ein Wort im Lexikon drin ist, ist es drin; bei einem digitalen Wörterbuch hat man ja keine Beschränkungen im Umfang. Man kann sich natürlich auch über Wörter informieren, die heute nicht mehr im Gebrauch sind. Heute sagt kaum einer mehr, „behufs“ für „zum Zwecke“ oder „sintemal“ für „zumal. Trotzdem verschwinden diese Wörter nicht aus dem Wörterbuch. Und manchmal täuscht man sich auch. So manch altes Wort kommt heute noch häufiger vor als man denkt. Wie gehen Sie mit Wörtern um, die ideologisch gefärbt sind? Wir haben sehr lange diskutiert, wie wir zum Beispiel mit Nazi-Texten umgehen sollen und sind zu dem Schluss gekommen, auch sie aufzunehmen. Es muss auf diesem Gebiet schließlich Forschung möglich sein. Wir haben zum Beispiel auch das ganz hervorragende „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ integriert, das in der DDR entstanden ist und in dem etwa 2000 ideologisierte Wörter wie „Arbeiterklasse“ oder ähnliches enthalten sind. In solchen Fällen muss man die Artikel überarbeiten oder zumindest auf den Hintergrund hinweisen. | Interview: Alice Ahlers

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