Filmfestspiele Cannes Anne Franks Freundin wird rabiat

Anne Frank (links) und ihre imaginäre Freundin Kitty werden in einem Animationsfilm für Kinder lebendig.
Anne Frank (links) und ihre imaginäre Freundin Kitty werden in einem Animationsfilm für Kinder lebendig.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine eigenen Kinder freiwillig die 360 Seiten des Tagebuchs von Anne Frank lesen, die suchen nach ihren Informationen im Internet“, sagte der israelische Regisseur Ari Folman (58) in Cannes. Darum drehte er die Animation „Where Is Anne Frank?“, die auf wunderbare Weise Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Sie läuft außer Konkurrenz.

Bisher lag Anne Franks Tagebuch, das die Nazizeit, die Flucht und das Versteck aus der Sicht des jungen jüdischen Mädchens beschreibt, im Anne-Frank-Museum in Amsterdam. Doch aus den Buchstaben wird Rauch. Er steigt hoch: Kitty, die imaginäre Freundin, für die Anne das Tagebuch schrieb, wird so lebendig wie der märchenhafte Flaschengeist. Sie ist etwa 14 wie Anne, hat leuchtend rote lange Locken, ist neugierig, wild und mutig. Sie stiehlt das Tagebuch und streift durch das Amsterdam von heute, wo so ziemlich alles den Namen Anne Frank trägt.

Wenn sie in dem Buch blättert, werden die Personen aus Annes Leben in Rückblenden sichtbar: ihre Familie, ihr kleines Zimmer, ihr Vater Otto, der als einziger den Holocaust überlebte, und die von Anne ungeliebte Familie, mit der sie im Versteck zusammenlebte. Je mehr Kitty liest und sieht, umso mehr sehnt sie sich nach ihr. Irgendwann schafft sie es, in einer Rückblende mit ihr zusammen zu sein. Doch in Amsterdam findet sie keine Anne. Erst die Begegnung mit einem Flüchtlingsjungen macht ihr klar, dass Anne tot ist. Kitty zieht ins Haus zu den Flüchtlingen – währenddessen ist die ganze Stadt mit Plakaten übersät: „Wo ist Anne Franks Tagebuch?“ Es gibt eine Belohnung: 100.000 Euro.

Eigentlich will Kitty das kleine rote Buch nicht aus der Hand geben, doch am Ende steht sie auf dem Dach zusammen mit den Flüchtlingen, die sich an den Flammen aus einer Mülltonne wärmen und stellt ein Ultimatum: „Das ist Anne Franks Tagebuch. Ich werde es ins Feuer werfen, wenn die Flüchtlinge in diesem Haus nicht bleiben dürfen.“ Näher waren Vergangenheit und Gegenwart wohl noch nie in einem Film für Kinder.

Der Preis ist hoch: Am Ende löst sich Kitty wieder auf und verschwindet zurück in den Buchstaben des Buchs. Aber zumindest einer Flüchtlingsgruppe ist geholfen, und die jungen Zuschauer lernen, dass Kinder keineswegs machtlos sind, sondern viel bewegen können, wenn sie nur mutig sind.

Kann man die Leiden der Holocaust-Flüchtlinge mit denen der Flüchtlinge von heute vergleichen? Laut Ari Folman schon. Folman (sein größter Erfolg war „Waltz with Bashir“, 2008, die politische Animation für Erachsene über den Krieg im Libanon, für die er den Golden Globe bekam) verrät im Abspann, dass seine Eltern am selben Tag in Auschwitz ankamen wie Anne Frank in Bergen-Belsen. Auch sie haben nicht überlebt.

Folman geht es nicht um die Judenverfolgung, denn er sagt von sich, er sei Atheist. Er geht weiter: „Ich glaube nicht, dass die Menschen grundsätzlich gut sind. Das sieht man daran, wie wir mit Flüchtlingen umgehen.“ Seinen Film habe er für alle Flüchtlinge gemacht, speziell für die Kinder: „Allein im Jahr 2020 mussten 17 Millionen Minderjährige ihr Land verlassen und fliehen“, erinnert er.

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