Kultur 99 Jahre später

Ein vielschichtiges Psychogramm um einen traumatisiserten Jungen: Szene aus „Rodelinda“ mit Fabián Augusto Gómez Bohórquez als F
Ein vielschichtiges Psychogramm um einen traumatisiserten Jungen: Szene aus »Rodelinda« mit Fabián Augusto Gómez Bohórquez als Flavio.

Gleich drei Opern von Händel stehen in dieser Saison auf dem Programm der Oper Frankfurt: ein Zeichen der Präsenz von dessen Bühnenwerken in den Opernspielplänen heute. Dabei waren diese Stücke vor 100 Jahren völlig vergessen. Mit der „Rodelinda“ setzt in Claus Guths Inszenierung und unter der musikalischen Leitung von Andrea Marcon die Frankfurter Oper ihre höchst erfolgreiche Reihe mit Barockopern fort.

Es war die „Rodelinda“, mit der 1920 in Göttingen der Kunsthistoriker Oskar Hagen die Opern Händels wiederentdeckte und -belebte. Damals musikalisch nicht unerheblich bearbeitet und klanglich vom schwerem Wagnerton geprägt. 99 Jahre später hört sich Händel ganz anders und mutmaßlich authentischer an. Szenisch hat sich auch viel getan, doch einmal abgesehen von Versuchen einer auch optisch historischen Aufführungspraxis hatte Hagen keine andere Ambition als die Theaterleute von heute: das Publikum an die Stoffe der Händel’schen Opern heranzuführen und sie mit diesen zu fesseln. Regisseur Claus Guth tut das hier auf eine dramaturgisch sehr vielschichtige und optisch wie konzeptionell überzeugende Weise. Diese Inszenierung ist freilich nicht neu. Sie entstand vor zwei Jahren in Madrid und wurde auch schon in Lyon und Barcelona gespielt. Neu ist in Frankfurt die musikalische Einstudierung, nur Lucy Crowe in der Titelrolle war schon in der spanischen Hauptstadt dabei. Eine Konstante aber gibt es bei allen Aufführungen: Fabián Augusto Gómez Bohórquez in der stummen Rolle des Flavio, des Sohns von Rodelinda und Bertarido. Der kleinwüchsige kolumbianische Schauspieler, der keinen Ton singt oder spricht, steht im Mittelpunkt, denn aus seiner Sicht wird die Geschichte erzählt. Er erlebt die kruden Geschehnisse um seine Eltern, seine Familie und deren Widersacher hautnah mit. Er versucht sie in Zeichnungen zu verarbeiten, die immer wieder über dem Bühnenbild eingeblendet werden. Doch er bleibt traumatisiert und sieht Gespenster. Ganz besonders am Schluss, wo doch alles gut auszugehen scheint. Nun sind psychologisierende Deutungen Händel’scher Opern en vogue, aber selten gelingen diese so schlüssig und theatralisch packend wie hier. Es passiert viel in dieser „Rodelinda“, aber nie erschlägt die Szene die Musik. Beide steigern sich vielmehr gegenseitig in ihrer Wirkung – und so soll das ja bei der Oper sein. Nach der sehr konzentrierten und auf ihre Art faszinierenden Aufführung des „Rinaldo“ im Bockenheimer Depot mit einer eigenwilligen musikalischen Fassung und dem mit musikalischen Verfremdungseffekten aufwartenden „Serse“ ist diese „Rodelinda“ mit nur geringen Strichen musikalisch von den drei Frankfurter Händel-Stücken der Saison am nächsten am Original. Zumal Andrea Marcon am Pult des famos auf alten Instrumenten agierenden Orchesters eine ausgereifte und in jeder Nummer überzeugende Deutung bietet. Im Duett am Ende des zweiten Aktes überbietet er in puncto Intensität und Genauigkeit in Phrasierung und Artikulation all seine Kollegen um Längen. Nicht nur hier zeigen Lucy Crowe als Rodelinda und Andreas Scholl als Bertarido ihre Gesangskultur und Ausdruckskraft. Crowe verbindet Leidenschaft und Stilgefühl optimal, Scholl begeistert mit der linearen Feinheit und Gefühlstiefe seiner Gesangslinien. Martin Mitterrutzner als Grimoaldo ist einmal mehr ein facettenreich singender lyrischer Tenor. Katherina Magiera entfaltet als Eduige einen wunderbar warmen und beweglichen Mezzo. Božidar Smiljani ist als Garibaldo eine Schurke mit geschmeidiger Bassstimme. Der polnische Countertenor Jakub Józef Orlinski war ja schon als Rinaldo eine Sensation. In der kleinen Rolle des Unulfo setzt er wieder Zeichen mit berückenden stimmlichem Wohllaut und Artistik in Stimme und Sport. Termine Weitere Vorstellungen sind 17., 19., 23., 25. und 30. Mai sowie 1. und 8. Juni. Karten unter Telefon 069 21249494 oder www.oper-frankfurt.de

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