Online-Kolumne Kraft vom Käfer

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Das Krafttier Marienkäfer ist in mein Leben gekommen. Nicht alleine, nicht zu zweit, nein offenbar mit der kompletten Verwandtschaft, angeheirateten Cousins und Schwippschwägerinnen aus Sonstwoher inklusive. Zu Hunderten kleben und krabbeln sie seit Tagen in Klumpen an den Balkontüren herum und scheren sich einen Dreck um Corona-Sicherheitsmaßnahmen. Müssen sie als Krafttiere wohl auch nicht, würde, danach gefragt, ein Schamane wohl sagen. Schamanen kennen sich aus mit uraltem Wissen und spirituellen Tierbegleitern und damit auch mit dem Krafttier Marienkäfer, wie sie es nennen.

Guter Schamanen-Rat ist teuer

„Fliegt der Marienkäfer als Krafttier in Ihr Leben, so steht Ihnen eine glückliche Zeit und gutes Gelingen bei all Ihren Vorhaben bevor“, so steht es auf einer Schamanen-Homepage. So gesehen müsste bei mir in den nächsten Wochen so ziemlich alles klappen, wenn ich mir die Käfermasse an den Scheiben so betrachte. Jetzt habe ich aber gerade gar nichts Besonderes vor. Ärgerlich. Aber da kann man nichts machen. Allenfalls könnte ich versuchen, das große Krabbeln auf einen Schlag loszuwerden. Doch ob die Tiere auch Kraft spenden, wenn es um ihre eigene Vernichtung oder zumindest Vertreibung geht, ist nicht gewiss. Und da ich keine Schamanen persönlich kenne, kann ich auch nicht fragen.

Randale im Rollladenkasten

Halten wir uns an die bekannten Fakten: Die Käfer sind da, sie frieren offensichtlich ein wenig oder fühlen sich aus einem anderen Grund im Freien nicht mehr so gut, vielleicht mögen sie den Herbst nicht, vielleicht sticht ihnen die tiefstehende Sonne in die Augen, keine Ahnung, jedenfalls wollen sie lieber rein. Nicht ganz rein, aber in die Türrahmen und Rolllädenkästen, um es sich dort über Winter halbwegs gemütlich zu machen, so meine Theorie, die von namhaften Biologen unterstützt wird. Ich kann das Bestreben durchaus nachvollziehen, auch ich hab’s im Winter gern warm, dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich während der kalten Monate in einer Wohngemeinschaft mit winzigen gepanzerten Krafttieren leben möchte. Was, wenn ihre Kraft in falsche Bahnen gelenkt wird und sie mir beispielsweise aus Frust und Langeweile den Rollladenkasten zusammentreten?

Gewaltbereite Kannibalen

Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn guckt man sich die Käferchen genauer an, fällt auf, dass ihre Grundfarbe kein klassisches mitteleuropäisches Marienkäfer-Rot ist und sie auch viel mehr Punkte haben als die einheimischen Siebenpunkter. Kein Zweifel, beim Besuch auf dem Balkon handelt es sich um asiatische Marienkäfer! Und mit denen ist nicht gut Kirschen essen, mit denen ist überhaupt nicht gut essen und auch sonst nichts. Berührt man sie, fangen sie an zu stinken, und wenn sie nicht genügend Blattläuse finden, fressen sie ihre Artgenossen auf. Oder die Larven der echten, einheimischen Marienkäfer. Die Vorstellung, dass da eine gewaltbereite, übelriechende Kannibalen- und Babymörder-Horde versucht ins Haus zu kommen, ist alles andere als angenehm. Auch hier wäre wieder ein schamanischer Tipp nicht schlecht, doch woher nehmen, wenn nicht googeln?

Geduld und Dankbarkeit

Das Krafttier Marienkäfer ist also in mein Leben gekommen. Das Krafttier Marienkäfer wird aus meinem Leben (und meinem Rollladenkasten) auch wieder verschwinden. Spätestens, wenn sie sich in Ermangelung einer Alternative gegenseitig aufgefressen haben. Unsere Blattlaus-Vorräte sind begrenzt. Der Schamane lehrt neben der Krafttier-Theorie ja auch vieles andere, Geduld spielt da eine große Rolle. Und Dankbarkeit. Also bin ich dankbar. Dass es nur das Krafttier Marienkäfer ist, das da an den Scheiben und Hauswänden lauert, und nicht etwa das Krafttier Gürteltier. Das gibt es nämlich auch. „Trippelt das Gürteltier als Krafttier in Ihr Leben, will es Sie auf Themen wie Schutz, Abgrenzung und Erdverbundenheit aufmerksam machen“, heißt im Schamanismus. Und das, muss ich sagen, sind Themen, die mich gerade auch nicht so sehr interessieren.

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