leos geschichtsstunde Kuriose Geschichten aus dem finsteren Stumpfwald bei Ramsen

Selten zu sehen, aber da: Hirsche im Stumpfwald.
Selten zu sehen, aber da: Hirsche im Stumpfwald.

I: Die „Neun Steine“ sind elf

Wenn ein Pfälzerwald-Wanderer nach einem Denkmal namens „Neun Steine“ Ausschau hält, verlässt er sich gewiss darauf, dass er es mühelos daran erkennt, dass er eben neun Steine zählt. Im Wald westlich von Hettenleidelheim indes erweist sich wieder einmal, wie tückisch scheinbare Gewissheiten sind: Die „Neun Steine“ am zum Lauberhof führenden Weg sind in Wahrheit elf, und eifrige Forscher haben schon vor 100 Jahren durch Stochern im Waldboden ermittelt, dass es einst gar 14 waren: Dort, wo Lücken klaffen, sind die bis zu 80 Zentimeter hohen Sandsteine abgebrochen.

Uraltes Kulturland

Wann aber war „einst“? Wie alt ist der 8,50 Meter im Durchmesser große Steinkreis? Das zu klären, haben schon so prominente Pfalzforscher wie Friedrich Sprater und Daniel Häberle vergebens versucht. Fest steht: die „Neun Steine“ stehen auf uraltem Kulturland. Der Waldweg, der sich heute von Hettenleidelheim durch das Kannegießertal schnurgerade auf den Lauberberg und auf dessen Höhe zum Lauberhof und weiter Richtung Kaiserslautern zieht, war schon in vorgeschichtlicher Zeit eine wichtige Fernstraße. Unweit der Steine gibt es etliche keltische Hügelgräber, dessen größtes einen Menhir, den „Fliegenstein“ trägt. Sollte also auch unser Steinkreis bereits vorgeschichtlich sein, vielleicht ein unvollendetes Hügelgrab?

Zahlenchaos

Das ist vermutet – und verworfen – worden: Hiesige Hügelgräber haben keine derartige Steinumgrenzung. So dürfte eine vielfach bezweifelte Nachricht von 1827 doch richtig sein. Danach hätten hier bis „in die neuesten Zeiten (das meint: bis die Pfalz 1797 französisch wurde) die Schultheißen der neun Gemeinden, welche im Stumpfwald Forstrechte hatten“, Gericht über Waldangelegenheiten gehalten. Denn auch diese Neunmärkerei besteht in Wirklichkeit nicht aus neun, sondern aus (ehemals) 14 Gemeinden: neun entfernteren, im Eistal und der Rheinebene liegenden, und fünf, die Anrainer des Stumpfwaldes sind. Und präzis 14 Schultheiße hätten auf den 14 „Neun Steinen“, die auch „Neun Stühle“ heißen, Platz nehmen können. Wahrhaft seltsam.

II: Nochmal „Neun Stühle“

Komplizierter wird diese Angelegenheit dadurch, dass es am entgegengesetzten Ende des Stumpfwalds, an der Grenze zum Alsenborner Wald, ebenfalls „Neun Stühle“ gibt. Sie – es sind tatsächlich neun, inschriftlich mit den Namen der entfernteren Gemeinden bezeichnet – stammen zwar erst von 1933, sind aber als freie Rekonstruktion einer mittelalterlichen Gerichtsstätte, die es wahrscheinlich einige hundert Meter entfernt gab, gemeint: „das lantgericht of dem Stamp an den Stulen“, wie es in einem Gesetzestext von anno 1390 (!) heißt, mit dem man sich erstaunlicherweise bis in die Gegenwart immer wieder herumzuschlagen hatten.

Räubern auf der Spur

Die Grafen von Leiningen erhielten dazumal Gelder, damit sie jedes Gericht „helfen beschirmen“, und ebenso sollten die „hern zu Lyningenn helfen schirmen die strasze of dem Schorleberge vor unfurtigen luden“. Das heißt: sie hatten den Auftrag, die erwähnte Fernstraße, also den Vorläufer der A6, zu sichern und zweifelhafte Leute, die dort in räuberischer Absicht lauerten, zu beseitigen. Was dieses Landgericht abzuurteilen hatte, und ob es identisch ist mit dem späteren Stumpfwaldgericht, das sich vor allem mit Verstößen gegen die Waldnutzungsregeln zu befassen hatte, ist unklar. Schon um 1600 wurde an den Alsenborner „Stühlen“ jedenfalls kein Gericht mehr gehalten. Wahrscheinlich hatten die „Neun Steine“ oder „Stühle“ am Weg von Hettenleidelheim zum Lauberhof ihre Funktion übernommen. Aus ganz praktischen Gründen: Die am Wald Berechtigten waren alle östlich des Stumpfwaldes ansässig und sparten sich so ein gutes Stück Weg. Das würde auch den faktisch unrichtigen, mit der Stuhlzahl nicht übereinstimmenden Namen erklären. Bald scheint man auch diesen alten Zopf abgeschnitten zu haben und tagte fortan in trockenen Rathausstuben zu Grünstadt und Eisenberg.

III: Gültiges Gesetz von 1390

Wir haben hier also ein 150 Quadratkilometer großes Waldstück zwischen Hettenleidelheim, Ramsen und Alsenborn, für das die bis heute grundlegende Rechtssatzung aus dem Jahr 1390 stammt, ja sogar viel älter ist, indem damals lediglich mündlich überliefertes Recht verschriftlicht worden ist. Das Weistum schreibt Beholzungsrechte von neun an der Eis gelegenen Dörfern im Stumpfwald – er hieß damals: Stamp – fest: Mertesheim, Grünstadt, Asselheim, Mühlheim, Albsheim, Heidesheim, Colgenstein, Obrigheim und Obersülzen. Wer „Mene“ – das ist: Fuhrwerk – besitzt, darf in den Wald fahren und sich Bäume als Bau- und Feuerholz holen, und zwar nur zum eigenen Bedarf. Es gibt 1390 und später fantasievolle, aber wahrscheinlich nicht sonderlich effektive Vorschriften, um zu verhindern, dass die Berechtigten mit dem Holz einen schwunghaften Handel trieben.

Herdfeuer beholzen

In dem nahe am Stumpfwald liegenden Wattenheim hingegen haben nur Eigner eines Hornviehgespanns Beholzungsrechte. In Ramsen, Hettenleidelheim, Eisenberg und Stauf darf sich jeder, der ein Herdfeuer sein eigen nennt, also jeder Haushaltsvorstand, beholzen. Diese Dörfer gehören als Bestandteil des Ramser Klosters und der Herrschaft Stauf gewissermaßen von Anfang an zum Stumpfwald dazu und werden erst in späteren Texten eigens erwähnt, und erhalten wohl auch erst später Sitz und Stimme in der Neunmärkerei.

IV: Staatliche Übergriffe

Leider, so klagt ein bayerischer Jurist im 19. Jahrhundert, sage das Weistum von 1390 nicht, wem der Stumpfwald eigentlich gehöre. Das dürfte daran liegen, dass ein so großes, abgelegenes Gebiet nach mittelalterlichen Vorstellungen gar nicht in unserem heutigen Sinn besessen, das heißt also beherrscht werden konnte. Aber das Weistum sagt deutlich, wer im Wald das Sagen hat: in erster Linie das 1146 gegründete Kloster Ramsen und ab 1485 als dessen Nachfolger die Wormser Bischöfe, in zweiter Linie die Herrscher auf Burg Stauf als weltliche Schutzvögte des Klosters.

Staatliche Übergriffe

Im 17. und 18. Jahrhundert beuteten die Grafen von Nassau-Weilburg als Herren von Stauf den Stumpfwald immer mehr für ihre Zwecke aus, wogegen sich die Neunmärker mit etlichen Prozessen vor dem Reichskammergericht – in mindestens einem Fall sogar erfolgreich – wehrten. Damit beginnt eine nicht mehr endende Folge staatlicher Übergriffe auf die Beholzungsrechte, gegen die sich die Neunmärker zwei Jahrhunderte lang juristisch wehren. Es kommt zu entsprechenden Auseinandersetzungen, als die pfälzischen Gebiete in den 1790er Jahren französisch und als sie 1816 zum bayerischen Rheinkreis werden, in der nationalsozialistischen Diktatur und in der BRD.

Mächtiger Staat

Das Resultat ist immer dasselbe: das Eigentum des Staats wird bestätigt, ebenso aber auch seine Einschränkung durch die im Stumpfwaldweistum und seinen Folgedokumenten festgeschriebenen Neunmärker-Rechte. Die in französischer Zeit gefundene Formel zur Aufteilung des Holzeinschlags bleibt: eine Hälfte für den Staat, die andere für die Neunmärker. Seit 1885 erhalten sie ihren Anteil nicht in Holz, sondern in Geld – und geben es an die Berechtigten als den eigentlichen Rechtsinhabern weiter. Der Berichterstatter selbst hat in seinen frühen Jahren, also längst in bundesrepublikanischer Zeit, seine betagte Großmutter zur Auszahlung dieses Gabholzgelds auf die Gemeindeeinnehmerei begleitet.

Gerichtsstreit

So hätte es bleiben können – wenn nicht in den 1970er Jahren der Ramser Bürgermeister, satzungsgemäß Vorsteher der Neunmärkerei, Angestellter der Landesforstverwaltung gewesen wäre, also zwei Herren mit entgegengesetzten Interessen zu dienen hatte. Wundersamerweise unterblieben jetzt die Gabholzgeldauszahlungen – mit dem Verweis auf die schlechte Ertragslage zu Zeiten sauren Regens und völlig geschwundenen Brennholzbedarfs. Ein gutes Jahrzehnt später stellten Kommunalpolitiker fest, dass beim Land Walderträge in beträchtlicher Höhe aufgelaufen waren. Gerichtlich erstritt der Neunmärker-Zweckverband die Herausgabe von 420.000 DM. Zuletzt hätte nicht viel gefehlt, und es wäre gerichtsanhängig gewesen, ob ein jetziger Wattenheimer Traktor einem Ochsengespann von anno 1390 gleichzusetzen sei.

Prozessende

Der Prozess wurde abgeblasen. Es fiel den Neunmärkern urplötzlich ein, dass seit 1970 keine Listen der Berechtigten mehr geführt worden waren. Und dass es der Verwaltung keineswegs zuzumuten sei, diese Arbeit nachzuholen – weswegen man die gerade erstrittenen Walderträge für jetzt und die Zukunft dem Land zurückgab: zum Zwecke walderhaltender und -schützender Maßnahmen. So haben die Neunmärker de jure ihre Nutzungsrechte behalten, sie de facto aber zuungunsten der Berechtigten aufgegeben.

Hier zu Hause: Rotwild im Stumpfwald.
Hier zu Hause: Rotwild im Stumpfwald.
x