Rheinpfalz "Sunday Assembly": Kirche ohne Gott

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»Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.« Matthäus 7, Vers 7. Die Anhänger der Sunday Assembly suchen auch nach etwas, nicht nach einem höheren Wesen, aber nach einem tieferen Sinn. Parallelen zu praktizierenden Christen sind nicht zufällig.

Einmal im Monat treffen sich Atheisten in Hamburg und reden über Werte. Sie feiern vor allem eines: das menschliche Dasein.

Am Anfang kamen 200 Leute. Junge, Alte, Konfessionslose, organisierte Atheisten, auch Gläubige. Mancher war auf der Suche nach Anschluss, andere suchten nach dem Sinn des Lebens. An diesem Sonntag versammeln sich zehn Gleichgesinnte im Centro Sociale, einem alternativen Veranstaltungszentrum im Hamburger Schanzenviertel zur monatlichen Sunday Assembly. Tapfer winkt das grüne Werbesegel mit dem Hinweis auf diese Zusammenkunft von bekennenden Atheisten den Passanten zu. Im Innern des Flachbaus proben vier Männer mit E-Gitarre, Bass und der Kistentrommel Cajón das Repertoire des Nachmittags.

Suche nach Gemeinschaft

Die Sunday Assembly in der Hansestadt, zu deutsch Sonntagsversammlung, ist die letzte derartige Zusammenkunft nichtreligiöser Menschen, die nach einem weltweiten Boom vor ungefähr fünf Jahren in Deutschland noch geblieben ist. Die Teilnehmer vereint ihre Suche nach einer sinnstiftenden Gemeinschaft, nach anregenden Gesprächen, freundlichen Kontakten. „Ich mache das, weil es mir Spaß macht. Wenn ich der Letzte bin, der noch kommt, ist es auch okay“, sagt Christian Lührs. Der 59-Jährige gehört zu den Organisatoren der ersten Stunde, seine ganze Familie ist dabei.

Karaoke mit Liveband

Lührs ist im Alltag Ingenieur und hat drei erwachsene Kinder. Er ist in einer atheistischen Familie groß geworden und einer dieser Menschen, die unentwegt etwas tun müssen. Der hagere Mann spielt in zwei Bands und ist sowohl im Humanistischen Verband als auch im Vorstand des Vereins Leben mit Behinderung aktiv. Er hat ein Segelboot, einen Garten und studiert neuerdings Philosophie. Und einmal im Monat organisiert er gemeinsam mit vier anderen die Sunday Assembly. Punkt 14 Uhr geht es los. Der Beamer projiziert erst den Ablauf der einstündigen Zusammenkunft auf die Leinwand, dann den Text des ersten Liedes: „Big in Japan“ von Alphaville. Das heutige Vortragsthema dreht sich um die Reise eines Teilnehmers nach China. Einen passenderen Song, sagt Lührs etwas entschuldigend, habe er nicht finden können. Die Teilnehmer singen gemeinsam im Stehen. Karaoke mit Liveband, nur, dass der Gesang nicht schallt.

Wie ein kirchlicher Ritus

Die Initiatoren betonen, dass es vor allem darum gehe, das Leben zu feiern und offen für alle und alles zu sein. Doch schon nach dem zweiten Lied – „Englishman in New York“ von Sting – ist eines sehr offensichtlich: die Atheisten hier folgen einem Ablaufplan, der dem kirchlichen Ritus ähnelt. Begrüßung, Lied, Lesung, Vortrag, Lied, Zwiegespräch mit dem Sitznachbarn, Lied, stille Reflexion, Lied, Abkündigung, Kaffee, Kuchen, Schluss. Es gibt zwar keine gemeinsame Schrift, aber eine Art Glaubensbekenntnis, das in 17 Punkten zusammenfasst, welchen Grundsätzen die Gemeinschaft folgt. Dieses feiert im Wesentlichen das Leben allgemein und die menschliche Existenz, die persönliche Freiheit und Handlungsfähigkeit, die Selbstverantwortung und die gegenüber den Mitmenschen, auch Zuneigung und Liebe, Hilfsbedürftigkeit, Zweifel und die Vielfalt der Welt.

Auch eine Kollekte gibt es

Die Assembly hat eine Community-Mission, die der praktizierten kirchlichen Nächstenliebe nahekommt: „Durch unsere Action Heroes (gemeint ist jeder Einzelne, Anm. d. Red.) werden wir eine Kraft für das Gute sein.“ Realisiert wird diese Hilfsbereitschaft und Fürsorge sowohl untereinander als auch mit Hilfe kleiner Gruppen, die Projekte organisieren. Sogar die Kollekte gibt es, sie heißt nur anders: Spende. Denn die Sunday Assembly kostet – Raummiete, Gema-Gebühren, Kaffee und Kuchen. Und sie trägt sich ausschließlich über die Zuwendungen ihrer Teilnehmer. Zusammengefasst haben das die britischen Comedians Sanderson Jones und Pippa Evans, die die Sunday Assembly 2013 in London gegründet haben, unter einem griffigen Motto: „Live better, help often, wonder more (Lebe besser, hilf oft, denke mehr nach). Was also ist die Sunday Assembly: eine Kirche ohne Gott? Ein Kaffeekränzchen mit Anspruch?

Wie Religion, nur anders

Der Kieler Soziologe Manuel Franzmann ordnet die Sonntagsversammlung nicht den fortgeschritten säkularisierten Gesellschaften zu, die auf die Auflösung von Glaubensgemeinschaften hinauslaufen, sondern eher einer Übergangsform zwischen diesen und den klassischen Atheisten wie den Freidenkern. Letztere, so Franzmann, haben sich zwar über eine Abgrenzung zur Religion definiert, zugleich aber strukturell eine große Nähe beibehalten. Bei der Sunday Assembly zeige sich dies noch in der Kontinuität als säkulare Glaubensgemeinschaft, welche das Bedürfnis nicht verleugnet, sich auszubreiten. „Fortgeschritten säkularisierte Menschen praktizieren hingegen kaum noch eine Vergemeinschaftung über Glaubensinhalte, weil der Säkularisierungsprozess zur radikalen Autonomisierung der Lebensführung beiträgt“, sagt Franzmann. Soll heißen: Es gibt nur noch individuelle Antworten auf Sinnfragen. Findet man sich zusammen, dann in Gruppen, die einzig auf dem Interesse aneinander fußen. Das können Freundeskreise sein, Künstlertreffen, Debattierclubs.

Antwort auf das Vakuum des Nichtglaubens?

Aus diesem Grund lehnen diese Menschen auch Bemühungen ab, analog zu den Kirchen einen Zentralrat der Atheisten zu begründen. „Das ist ebenso nur ein Projekt der säkularen Glaubensgemeinschaften, die noch im Ablöseprozess von der Religion stehen“, sagt Franzmann. Lührs drückt es so aus: „Religion hat eine gemeinschaftsordnende Struktur, aber die Kirche spricht nur noch für 30 Prozent der Gesellschaft. Sie ist für eine Werteentwicklung einfach nicht mehr verantwortlich. Ich empfinde das als Risiko.“ Deshalb wird bei den Sonntagsversammlungen vor allem über Werte gesprochen. Norman von Sternberg, desertierter Katholik und Teil des Organisationsteams, glaubt fest daran, dass die Sunday Assembly „eine europäische Antwort auf das Vakuum sein kann, das der Nichtglaube hinterlässt“. Beim Anblick der wackeren kleinen Gruppe schleicht sich da ein gewisser Zweifel ein. Zudem deckt sich Lührs’ Beobachtung mit den Aussagen der Religionsforschung: Wer aus der Kirche austritt, tritt selten woanders wieder ein.

Auszug zu "Leaving on a jet plane"

Im Centro Sociale folgen nach dem Oasis-Hit „Wonderwall“ fünf Minuten Zwiegespräch mit dem Nachbarn über ein vorgegebenes Thema. „Alle geben ihr Bestes“ ist überschrieben, was anderswo offene Diskussion heißt, und in der anschließenden zweiminütigen stillen Reflexion kann jeder noch einmal für sich durchdenken, was er heute gehört und gesehen hat. Lührs beschließt den Nachmittag mit einigen Ankündigungen und stimmt „Leaving on a jet plane“ von John Denver als Schlusslied an. Man geht still zu Kaffee und Kuchen über. Nach knapp zwei Stunden ist sozusagen die heutige Messe gelesen.

Bei den sonntäglichen Versammlungen, die Christian Lührs (linkes Bild) organisiert, geht es um Werte wie Freiheit, Verantwortung
Bei den sonntäglichen Versammlungen, die Christian Lührs (linkes Bild) organisiert, geht es um Werte wie Freiheit, Verantwortung, Mitgefühl, Liebe – Gottesdienstbesuchern dürfte dies bekannt vorkommen.
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