Rheinpfalz Rückkehr der Audiokassette

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Sie war tot. Mausetot. Wir hatten kurz um sie getrauert und sie dann beerdigt. Und nicht gedacht, dass wir sie jemals wiedersehen würden. Wir haben uns geirrt. Sie ist wieder da: Die Audiokassette.

Zahlen lügen nicht. In den USA legt der Verkauf von Kassetten zu: von 2015 auf 2016 um 74 Prozent, 2017 noch mal um 35 Prozent. Wir reden hier zwar von weniger als 150.000 verkauften Exemplaren, die Kassette ist in der Nische Tonträger also noch mal eine eigene Nische, dennoch: Der Zuwachs in diesem Marktsegment ist ebenso überraschend wie spektakulär. Zumal vor allem Neuerscheinungen dafür verantwortlich zeichnen. Stars wie Justin Bieber, Kanye West und Taylor Swift veröffentlichen mittlerweile auf Kassette, nachdem es Künstler aus der Indie-Szene vorgemacht hatten. Und die mit einem guten Riecher ausgestattete US-Lifestyle-Kette Urban Outfitters hat in dem totgeglaubten Tonträger ein Trendprodukt entdeckt. Wie selbstverständlich stehen Kassetten und Kassettenspieler in den Regalen der stylishen Läden für musikaffine Hipster. In Deutschland werden jährlich etwa 120.000 Exemplare verkauft.

Digitalisierung setzte Todesstoß 

Noch vor knapp zehn Jahren schien das undenkbar. Da stimmten alle in den großen Abgesang auf den 1963 von Philips entwickelten Tonträger ein. 2010 stellte mit dem Diepholzer Plattenpresswerk Pallas der letzte deutsche Kassettenhersteller die Produktion ein. Viele andere hatten bereits kurz nach der Jahrtausendwende die Segel gestrichen. Zu drastisch waren die Verkaufszahlen zurückgegangen, nachdem ihnen schon die CD jahrelang kräftig zugesetzt hatte. Die Digitalisierung versetzte dem Medium dann scheinbar den Todesstoß. Warum nun dieses kleine Revival? Das Comeback der Schallplatte ist ja irgendwie nachvollziehbar. Die Entschleunigung beim Hören einer Platte, der warme Klang, den digitale Formate nicht bieten können, das haptische Erlebnis beim Auflegen einer LP, die Wiederentdeckung der Ästhetik eines Plattencovers – aus Sicht eines Musikliebhabers sprechen viele Gründe für das Wiedererstarken der LP. Für die Musikkassette spricht erst einmal wenig: dieses ständige Vor- und Zurückspulen, der mit der Zeit immer schlechter werdende Klang und der kirre machenden Bandsalat. Bah! Nervtötend! Klar, bei den älteren Käufern spielt wahrscheinlich der Nostalgiefaktor eine entscheidende Rolle. Die Renaissance der Kassette ist auch eine Rückbesinnung auf das Altbekannte, das Bewährte, in einer sich immer schneller drehenden Welt. Sie verleiht ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit, wie in der Kindheit. Hierzulande werden vor allem Hörspiele auf Kassetten verkauft: In den Top Ten befanden sich laut Messungen der Marktforscher von GfK Entertainment neun (!) Drei-Fragezeichen-Hörspiele.

Parallele zur YouTube-Generation

Und ein Soundtrack. Was uns direkt zur jüngeren Käufergeneration bringt, die ja ohne Kassette aufwuchs. Diese junge Generation wurde offenbar durch die Kinofilm-Reihe „Guardians Of The Galaxy“ (2014) und die Netflix-Serie „Stranger Things“ (ab 2016) so richtig angefixt. In beiden Produktionen spielen die Achtzigerjahre und ihre Technologien eine Rolle, die jeweiligen Soundtracks wurden stilecht auf Kassette veröffentlicht und belegen in den US-Charts des Tonträgers die Spitzenplätze. Es verwundert eigentlich nicht, dass die Generation YouTube Gefallen an einem Tonträger findet, der oft als erstes „Broadcast Yourself“-Medium bezeichnet wird. Die Do-it-yourself-Idee hinter der Kassette, die Demokratisierung der Musiklandschaft, die sie mit einleitete – all das muss der Influencer-Generation schwer sympathisch sein. So hoffnungsvoll wie der junge Musiker von heute mit der Gitarre vor der Webcam sitzt, saßen junge Musiker Ende der Siebziger vor ihrem Vier-Spur-Kassettenrekorder. Ein Plattenvertrag, ein teures Studio, ein Label, das einem vorschrieb, was man zu tun oder zu lassen hatte – all das war plötzlich nicht mehr nötig, um gehört zu werden. Man konnte Musik fortan in den eigenen vier Wänden aufnehmen und vervielfältigen. Für den Künstler bedeutete das eine neue Freiheit, eine Emanzipation von der Musikindustrie. So konnten sich neue Genres entfalten und ihr Publikum finden. Die Indie-Musik hat der Audiokassette viel zu verdanken, bis heute sind ihr Künstler aus Punk, Noise und Hip-Hop treu geblieben. Die Genese des Hip-Hops in der Bronx der Siebzigerjahre wäre ohne die Kassette kaum denkbar gewesen.

Kassette hatte etwas Rebellisches

Die Abgrenzung vom und Auflehnung gegen den Mainstream macht viel vom Reiz der Kassette aus. Sie hatte immer etwas Rebellisches. Vervielfältigen, kopieren – das konnte nicht nur der Künstler, sondern auch der Konsument. Und das ohne großen Aufwand. Entweder schnitt man Songs aus dem Radio mit, überspielte sich ganze Alben oder stellte für sich oder seinen Schwarm Mixtapes zusammen. „Die Ära der Musikkassette gilt weithin als Voraussetzung für das Aufkommen sozialer Tauschpraktiken, deren Potenzial in dem sich anschließenden digitalen Zeitalter für eine neue Medienumgebung bestimmend werden sollte – und dadurch auch ganz allgemein für neue Formen von Kreativität“, schreibt der amerikanische Geschichtswissenschaftler Adrian Johns in seinem Buch „Die Moral des Mischens“. Er verweist zwar darauf, dass es Piraterie schon vorher gab, die Kassette diese aber befeuert und professionalisiert habe. Das Publikum verlangte, dass Musik ständig verfügbar sein müsse. Der rebellische Charakter der Musikkassette zeigte sich auch politisch. In der DDR konnten Jugendliche dank ihrer Hilfe leichter an Westmusik kommen oder Dissidentenkunst verbreiten, die dem Staat ein Dorn im Auge war. Im Iran nutzte Ajatollah Khomeini 1979 das Medium, um seine Ideen auch unters nicht lesende Volk zu bringen und seine Ideologie zu verbreiten. Soldaten im Vietnam-Krieg schickten ihren Liebsten Nachrichten auf Kassette in die Heimat.

Bleibt ein Mini-Hype 

Wollen wir uns nicht reinsteigern. Der Hype um die Kassette wird ein Mini-Hype bleiben. Aber ist es nicht ein beruhigender Gedanke, dass im Zeitalter der immer schnelleren Digitalisierung, der Spotifyisierung der Musik, mancher junge Musikkonsument, der in seinem Leben nichts anderes als derlei Streamingdienste kannte, plötzlich Lust hat, Musik analog zu genießen? Handgemachtes wieder wertzuschätzen? Eins ist auf jeden Fall klar: Sollte das nächste Mal einem Medium der Tod diagnostiziert werden, sollten wir dem Ding alle noch mal sorgfältig den Puls fühlen. Oder sichergehen, dass wir das Teil nicht aus Versehen auf einem alten Indianerfriedhof begraben.

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