Kolumnen Online-Kolumne: Müssen oder dürfen

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Da ist auf einmal diese Frage im Kopf. Und sie geht nicht mehr weg. Muss ich oder darf ich? Die eine Antwort darauf gibt es nicht, habe ich festgestellt. Denn seit Tagen ist mir die Fragestellung einem Schatten gleich zu einem Begleiter geworden. Es ist ein kleiner Floh im Ohr. Und zu einem Spiel im Alltag geworden. Bei vielem, was ich tue, jongliere ich damit. Muss oder darf ich aufstehen? Sorry, ich war zu schnell. Denn der Tag beginnt ja eigentlich mit der Frage: Kann ich net noch e bissel ligge bleiwe? An dieser Stelle kommt es zum Dialog. Das Ich sagt mir, hopp jetzt, du musst raus aus den Federn. Oder aber: Es ist Wochenende, dreh‘ dich halt nochmal rum. Jedenfalls geht es den Menschen so, die eben nicht um Schlag fünf, sechs, sieben oder wann auch immer wach werden und direkt aufstehen. Nachtigall und Lerche eben.

Was müssen wir wirklich?

Sterben, klar. Aber was noch? Morgens duschen, die Zähne putzen, uns angemessen anziehen, dem Kind verbieten, die Hose mit dem Fleck nochmal anzuziehen, frühstücken, das Fahrrad, die Bahn, das Auto nehmen, das Handy nicht vergessen, arbeiten gehen, in der Schule oder im Ausbildungsbetrieb pünktlich erscheinen, grüßen, Türen öffnen und schließen, den Geldbeutel nicht vergessen, die beiden Brezeln bezahlen, die wir beim Bäcker holen, mit den Menschen um uns herum klarkommen … Jeder hat seine eigene Liste. Manche schreiben sich ja gerne auf, was alles zu erledigen ist. To-do-Liste wird das genannt. Sollte sie aber nicht ehrlicherweise Must-Liste genannt werden. Weil es alles Dinge sind, die wir an einem bestimmten Tag oder innerhalb einer gewissen Zeit erledigt haben wollen.

Kein Mensch muss müssen

Muss ich ein Geburtstagsgeschenk für Steffi kaufen – oder darf ich? Muss ich Gassi gehen mit dem Hund – oder darf ich? Muss ich die Flaschen wegbringen – oder darf ich? Muss ich am Samstag nach Ingolstadt fahren, weil der FCK spielt – oder darf ich? Muss ich den Müll rausbringen – oder darf ich? Muss ich morgen Abend zur Rückengymnastik – oder darf ich? Muss ich staubsaugen – oder darf ich? Muss ich die Spülmaschine ausräumen – oder darf ich? Fragen, die sich so gut wie nie stellen. Aber ich habe alles einmal im Darf-Modus erledigt. Mir bei allem einfach einmal gesagt: ich darf. Auf der Suche nach einem passenden Zitat, Bonmot, was auch immer, habe ich übrigens einen Volltreffer gelandet. Denn in Lessings „Nathan der Weise“ heißt es: Kein Mensch muss müssen. Für heute darf ich mich verabschieden.


Die Autorin

Christine Kamm (54) aus Ludwigshafen arbeitet seit 2012 im Sportressort der RHEINPFALZ.

Die Kolumne

Christine Kamm und Sigrid Sebald schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne "Ich sehe das ganz anders" über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

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