Ich sehe das ganz anders! Online-Kolumne: Die Seuche, 21 Days Later

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Jeden Abend Netflix glotzen. Alleine zu Hause Wein trinken. Den ganzen Tag die Trainingshose an, ohne irgendwas zu trainieren. Hoffen, dass einem keiner anspricht. Der Einkauf im Aldi ist der Höhepunkt der Woche. Die samstags gekauften Vorräte sind dienstags schon leergefressen.

Das war vor drei Wochen. Dann kam die Corona-Krise. Seitdem ist immer noch vieles wie es war. Nur ohne die Möglichkeit, es theoretisch anders machen zu können. Ich verzichte beispielsweise nicht ungern auf Big-Booty-Übungen im Fitnessstudio, weil ich a) keinen Bock drauf habe und b) das Anzüchten eines großen Hinterns ohnehin bei mir nicht oberste Priorität genießt und in gewisser Weise auch unnötig wäre. Was an den Nerven nagt, ist die mangelnde Option, Big-Booty-Übungen absolvieren zu können, wenn ich es denn wollte. Es ginge aber nicht, weil nämlich das Fitnessstudio zu hat. Nicht mal anmelden könnte ich mich. Schlimm! Oder?

 

Werden wir alle durchdrehen?

„Was macht die Isolation aus uns, werden wir psychische Schäden davontragen, die Kernfamilien sich im Wohnzimmer zerfleischen, und werden wir letztlich alle durchdrehen?“ Solchen Fragen wird derzeit nachgegangen, und sie sind auch überaus berechtigt. Nach mehreren Monaten Ausgangssperre kann man auch mal über die seelischen Befindlichkeiten der Daheimbleiber diskutieren. Nun sind wir hier bei uns allerdings erst in der zweiten Woche. Schulen dicht, Kindergärten zu, kein Shopping, kein Kino, die Kollegen nerven im Home-Office statt im Office, die Oster-Deko liegt immer noch auf dem Speicher, und putzen will auch keiner. Alles nicht so supi. Aber kann man das mental durchstehen?! Ich würde sagen: Jo. Geht.

 

Genervt ja, kaputt nein

Ich glaube nicht an die Hölle, sollte es sie aber doch geben, ist sie vermutlich kein Heimarbeitsplatz in der Westpfalz. Eher schon die Gefängniszelle, in der ein gewisser Albert Woodfox 44 Jahre lang in Louisiana in Isolationshaft saß. Ohne E-Mail, ohne Telefon, ohne Skype, ohne Whatsapp, über das er viertelstündlich die neuesten Klopapier-Brüller oder spaßige Selfies in Schlafanzughosen mit anderen Isolationshäftlingen hätte austauschen können. Um mal ein Beispiel zu nennen. Mutmaßlich hatte Woodfox nach den 44 Jahren ohne jeglichen menschlichen Kontakt große mentale Probleme, seelische auch, man könnte sagen: Der Mann war kaputt.

Ein paar Wochen Home-Office – auch mit noch so lauten Gören, die dauernd auf der Matte stehen, weil der Füller ausgelaufen oder Kikis Rüschenkleid im allgemeinen Saustall unauffindbar ist - werden keinen solchen Schaden anrichten. Das ist mal sicher.

 

Preußisch geht’s besser

Ich weiß, ich habe gut reden, ich bin auch sonst immer eher inaktiv, mir macht es nichts aus, wenn der Kochkurs „Indonesisch fürs Home-Office“ ausfällt, ich geh da eh nicht hin. Ein gewisses Grundphlegma und Desinteresse sind selten nützlich, bei Ausgangssperre aber schon. Und noch eine Eigenschaft, die ich gerade mit Erstaunen an mir entdecke: das preußische Pflichtbewusstsein. Stoisch das tun, was getan werden muss, ohne Rücksicht auf mögliche spätere Dachschäden. Ich geh jetzt mal auf den Speicher.

Die Autorin

Sigrid Sebald (50) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten.

 

Die Kolumne

Christine Kamm und Sigrid Sebald schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne „Ich sehe das ganz anders“ über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags. Hier finden Sie alle anderen Kolumnen.

 

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