Kolumnen Kolumne: Supercalifrugalistischextraunsympathisch

Frugalisten_sig_fertig.jpg

Frugalismus gibt’s jetzt auch noch. Man denkt an eine neue Hardcore-Variante des Vegetarismus, aber das ist es nicht. Frugalisten verfeinern das Konzept des frühen Feierabends und gehen früh in Rente. Weil Frührentner zu kränklich klingt, nennen sie sich Frugalisten. Kommt von frugal, was mit einfach oder bescheiden übersetzt werden kann.

Um nicht bis zum 60. oder gar darüber hinaus malochen zu müssen, knausert der junge Frugalist sich durch bis zum 40. (bei entsprechenden Einkommenslagen geht’s auch früher), um anschließend vom Vorher-nicht-Ausgegebenen und dem, was es Geldanlagen- und Aktienfonds-mäßig so abwirft, leben zu können. Gut leben zu können. Besser leben zu können. Ja, reich leben zu können, weil befreit von materiellem Ballast, der uns alle blind macht für das, was wir wirklich zum erfüllten Leben brauchen.

Der Frugalisten-König hat ein Skateboard und mag kein Ikea

Oliver Noelting braucht dafür sein Skateboard und nicht viel mehr. Oliver Noelting ist der deutsche Frugalisten-König, ein Softwareentwickler aus Hannover, der nicht bei Ikea shoppen mag. Steht auf seiner Internetseite www.frugalisten.de. Und noch mehr. Viel mehr. Unter Frugalisten gilt zwar der Grundsatz „weniger ist mehr“, aber Oliver Noelting hat halt echt viel mitzuteilen. Auf seiner Seite findet man Unmengen von Informationen über Oliver Noelting, dazu Rechenbeispiele, bis die Algorithmen qualmen (wie viel muss ich wie viele Jahre lang zurücklegen, um davon hinterher wie viele Dekaden leben zu können), vor allem aber Anleitungen dafür, wie knickrig sein und Spaß haben sich vereinbaren lassen. Das geht, sagt Noelting und tritt den Beweis an. So endet das Kapitel „Frugalist oder Waschlappen: Bist du bereit für finanzielle Freiheit?“ mit „Let’s rock!“. Lebensfreude pur. Dazu gibt’s Bilder: Oliver Noelting fährt Skateboard. Oliver Noelting hockt am Lagerfeuer. Oliver Noelting spielt Gitarre. Oliver Noeltings Freundin kocht was. Oliver Noelting hält sich sein Skateboard hinter den Kopf.

Frugalisten-Party: Die Gäste bringen Getränke und Stühle selbst mit

Wie er all das schafft? Er kauft einfach nichts. Verweigert sich dem Konsum, der verrückte Hund. Wenn was kaputt geht, repariert er’s, wenn Besuch kommt, kauft er keinen Zusatz-Tisch, sondern zerrt den Küchentisch ins Wohnzimmer. Partys feiert er keine, und wenn doch, gibt’s Billigbier. Am besten von den Gästen mitgebracht. Und wenn sie schon die Paletten beischleppen, können sie auch gleich ihre Stühle mitbringen. Oder auf dem Skateboard sitzen. Dann guckt nur der Kopf über die Küchentischkante, und schon haben alle wieder Spaß.

Der kleine Unterschied zwischen Hartz IV und Frugalisten

Stütze-Zahltage im sozialen Wohnungsbau sehen ähnlich aus. Dort kaufen die Protagonisten auch keine Tische bei Ikea, sondern holen sich geringfügig verschimmelte Furnierholzmöbel bei der Arbeitslosenselbsthilfe. Und hier haben wir auch schon den Unterschied zum Frugalisten: Wer Hartz IV bezieht, verzichtet nicht freiwillig auf Konsum, um später nicht arbeiten zu müssen. Meist arbeitet er bereits aktuell nicht und kauft deshalb Billigbier und Dosenfisch im Discounter. Das so gesparte Geld investiert er nicht in Aktien, denn er hat es gar nicht gespart. Sparen kann man ja nur Geld, das man hat, und das ist hier nicht der Fall. Die Spartabellen der Frugalisten finden hier keinen Ausgangspunkt. Oliver Noelting hat mal zwei Jahre in England gelebt. Beim Vorrechnen, wie man mit ganz wenig Geld ganz viel Freude haben kann, ließ er wissen, dass er dort auch drei- bis viermal zum Bier im Pub war. Mit dem Skateboard durch den Linksverkehr. Let’s rock. Nur zwölf Euro hätten ihn die Pub-Besuche insgesamt gekostet, berichtet er stolz.

Der Sinn des Lebens für die Totalentsager

Frugalisten geben als Ziel, was sie denn machen wollen, wenn sie in der Mitte des Lebens schon finanziell unabhängig sind, häufig „reisen und was von der Welt sehen“ an. Da ich keine Frugalistin bin (mit 40 in Rente gehen klappt ja nun auch nicht mehr), habe ich noch nicht so viel von der Welt gesehen. Aber in England war ich schon sehr oft, ich kenne mich da richtig gut aus, mit Mentalitäten, Gepflogenheiten und Bierpreisen. Und es ist so: Im Pub bestellt nicht jeder sein eigenes Getränk, sondern einer geht zur Theke und bestellt für alle. Nicht für alle Pub-Besucher, aber für die, mit denen man gekommen ist oder sich dort getroffen hat, mit denen man zusammensitzt. Man bestellt reihum in Runden für die Tischgesellschaft, um ein altmodisches deutsches Wort zu benutzen. Sitzt man beispielsweise zu sechst beisammen, werden sechs Runden Bier geholt. Da oft nicht viel Zeit ist – offiziell ist zwar nicht mehr um 23 Uhr Schluss, aber viele Wirte halten sich trotzdem dran, weil sie selbst müde sind – muss relativ schnell relativ viel Bier getrunken werden, was aber auch relativ schnell für Stimmung sorgt. Und da haue ich jetzt auch mal ein Rechenbeispiel raus: Zu sechst kann Oliver Noelting schon mal nicht im Pub gewesen sein, da hätten zwölf Euro nicht gereicht. Vielleicht war er zu viert dort, dann aber nur einmal. Oder zweimal zu zweit, mit seiner Freundin. Nach allem, was bisher bekannt ist, ist es aber am wahrscheinlichsten, dass Oliver Noelting viermal mit sich selbst im Pub war, dort jeweils lächelnd alleine ein Pint getrunken hat, erfüllt vom erhabenen Gefühl, nicht wie die anderen Deppen im Ikea rumzulatschen. Während um ihn herum an den Sechsertischen die Leute immer lauter wurden und mit dem Biertrinken nicht nachkamen. Mit diesem Szenario vor Augen wurde mir auch schlagartig klar, warum ich von Anfang an ein leichtes Unbehagen beim Lesen von www.frugalisten.de empfunden hatte, aus dem dann fast eine mittlere Abscheu wurde. Bei Menschen, die an einem schönen Abend brüllend Bier für alle bestellen und hinterher völlig pleite sind, geht mir das Herz auf. Bei euch, Frugalisten, geht mir was anderes auf. Ich drücke es mal unvorsichtig so aus: Lieber bis zum Umfallen auf den Ork-Feldern von Mordor ackern als mit euch Spaß haben.

Die Autorin

Sigrid Sebald (50) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten.

Die Kolumne

Sigrid Sebald und Christine Kamm schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne "Ich sehe das ganz anders" über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

x