Kolumnen Kolumne: Entschleunigung bei vollem Bewusstsein

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Einfach mal so einen Tag leben. Einatmen, ausatmen, eine Packung „Kür“-Kur von Aldi in die Haare schmieren. Essen machen. Fußmatte ausschütteln. Geht das? Es geht, aber en vogue ist es nicht, so viel steht fest. Larifari nebenbei wird nichts mehr gemacht, nur noch „ganz bewusst“.

„Wir haben uns ganz bewusst für die Cornflakes von XY entschieden“ oder „Wir mähen ganz bewusst von März bis September keinen Rasen“ sind so Sätze, die einem um die Ohren fliegen, kaum dass man mal die Hütte verlässt. Zu 99 Prozent vorgetragen in der Wir-Form, wobei oft unklar bleibt, wer mit „wir“ gemeint ist. Wir als Paar, wir als Familie, wir als Mitglieder des hiesigen Obst- und Gartenbauvereins? Viel Zeit zum Nachdenken bleibt nicht, denn schon folgt die Erklärung, warum „wir“ uns für oder gegen etwas „ganz bewusst entschieden“ haben. Den Sermon unterbrechen mit „Ist mir doch scheißegal“ - geht das noch? Es geht schon, aber en vogue ist es nicht. Besser würde man wohl sagen: „Ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden, mir dein Geseier anzuhören“, aber lange Gesichter gäb’s dann auch. Lassen „wir“ es also. Wie schnell ist eine halbe Stunde rum, und das mit der Fußmatte eilt ja nicht.

Alle sind immer so intensiv bewusst

Vielleicht bin ich ja nur neidisch, weil andere so intensiv bewusst sind. Vielleicht sollte ich mein Bewusstsein auch so weit auf Vordermann bringen, dass es nicht nur bei Feueralarm anspringt. Dann könnte ich auch ganz bewusst Cornflakes kaufen. Wobei – ich hab‘ Cornflakes bisher auch noch nie bewusstlos gekauft. Wie soll das auch gehen? Bewusstlos den Rasen nicht mähen, das geht, aber alles andere? Und wie sollte ich das dann hinterher lang und breit jedem erläutern, der nicht bei drei auf dem Baum ist? Schwierig. Es ist noch gar nicht so lange her, da war Intuition das große Ding. Alles aus dem Bauch heraus machen, nicht alles analysieren, der inneren Stimme folgen oder auch dem einem Gedanken ganz ähnlichen Windchen, das einem grad durchs Hirn geföhnt war. Da kam ich ganz gut mit klar, das war nicht so anstrengend, das Bewusstsein war immer da, aber auf standby, das sparte Energie, und auch damals kam es vor, dass dem Rasen von März bis September kein scharfes Mähmesser je zu Leibe rückte.

Die Socken-Zeremonie

Jetzt ist Achtsamkeit gefordert. Nicht jene Achtsamkeit, die man beim Überqueren der Straße an den Tag legen sollte, um nicht vom nächsten Stadtbus überfahren zu werden. Nein, alles soll achtsam geschehen. Vom Socken anziehen bis zum Cornflakes-Kauf. Die Socken sind so anzulegen, dass der Träger sich im Moment des Anziehens ausschließlich seinen Socken widmet und dabei an nichts anderes denkt. Wenn die linke Socke dran ist, nicht schon achtlos überlegen, dass gleich die rechte folgen wird. Das würde der linken Socke nicht gerecht und führt direkt in den Burnout. Verschmelzen im Hier und Jetzt mit der momentanen Tätigkeit. Fokussiert. Konzentriert. Dennoch entspannt. Und innerlich heiter. Ohne hektisch zu werden und im Haus rumzubrüllen, weil es schon halb acht ist und nach der Socken-Zeremonie noch weitere anstehen wie: Hose anziehen, schminken, Kind zum Verzehr bewusst eingekaufter Cornflakes zwingen. Das ist nicht leicht. Aber Unachtsame und Bewusstlose können trainieren. Ratgeber helfen: „Suche dir eine alltägliche Situation aus und mache sie bewusst anders. Zum Beispiel Zähneputzen. Wenn du ein Rechtshänder bist, putze deine Zähne mit Links. Dadurch wirst du automatisch achtsam, weil sich die neue Herangehensweise zunächst komisch oder ungewohnt anfühlt.“ Ok, ich würde sagen, dann ist morgen mal die rechte Socke zuerst dran. Ganz schön crazy. Aber wenn’s der Achtsamkeit dient…

Vor lauter Achtsamkeit bloß nicht das Entschleunigen vergessen

Dann muss ich nur noch aufpassen, dass ich vor lauter Bewusstsein und Achtsamkeit nicht vergesse zu entschleunigen. Die Rechtschreibeprüfung markiert mir das Wort rot, das liegt wohl daran, dass es noch nicht so lange existiert. Möglicherweise gibt es das Wort gar nicht, aber da hat vielleicht auch mal einer was im Sinne der Achtsamkeit einfach anders gemacht als sonst und hat statt „langsam machen“ „entschleunigen“ geschrieben, weil, wenn man beschleunigen kann, kann man auch entschleunigen, nicht wahr? Wahnsinn und kein Wunder, dass solche kühnen und geistreichen Kreationen sich durchsetzen im deutschen Wörterwald. Das schwache Verb „entlieben“ als Gegensatz zum „verlieben“ ist ähnlich kreativen Bewusstseinen (das schreibe ich jetzt einfach mal bewusst anders als sonst, nämlich falsch, vielleicht setzt es sich auch durch) entsprungen. Genau, wenn man sich verlieben kann, kann man sich auch entlieben. Fraglich bleibt, ob wer verdummt, auch wieder entdummen kann. So, tschüss jetzt, ich muss los, entschleunigen. Dazu muss man von der Westpfalz aus mindestens 80 Kilometer in die Vorderpfalz brettern und dort mindestens zwischen Weinreben wandeln. Eine Mandelblüte ist förderlich, aber nicht zwingend. Hauptsache, die Entschleunigerin schlappt achtsam und ganz bewusst quer durch den Wingert. Einfach mal so auf dem Sofa liegen, Cornflakes knuspern und die Fußmatte nicht ausschütteln – geht das auch? Es geht, aber Entschleunigung ist es nicht, so viel steht fest.

Die Autorin

Sigrid Sebald (50) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten.

Die Kolumne

Sigrid Sebald und Christine Kamm schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne "Ich sehe das ganz anders" über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

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