Kolumnen Kolumne: Der späte Gast

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Beim Durchkruschen alter Pappkartons fand ich die Einladung einer Klassenkameradin aus der fünften Klasse: „Liebe Sigrid, ich lade Dich zu meinem Geburtstag am 13.6. ein. Du kommst um 14.30 Uhr und gehst um 17 Uhr. Deine Jutta“. Eine klare Anweisung, festgehalten mit Bleistift in Kinderschreibschrift auf Butterbrotpapier und mit dem Lineal gezogenen Linien. Ich war gerührt. Und elektrisiert. Weniger wegen des Butterbrotpapiers, obwohl es in seiner Schlichtheit imponierte, auch und gerade im Vergleich mit den heute für Einladungen gerne benutzten handgeschöpften Büttenpapieren mit ganzen Palisander-Ästen samt Astlöchern drin. Wirklich umgehauen hat mich aber die exakte Zeitangabe, vor allem der Teil, wo es darum ging, wann ich wieder gehe.

Momente der Verzweiflung

Der Fund aus der Vergangenheit schien die Lösung zu bieten für einen Umstand, der bei den eigenen Festen der Jetzt-Zeit häufig für Momente der Verzweiflung sorgt, ich nenne das Phänomen mal: der späte Gast. Wer einmal oder auch schon mehrfach einen späten Gast hatte, der weiß, um was es geht. Zunächst fällt der späte Gast nicht sonderlich auf, meist kommt er ganz gruppenkonform mit den anderen Gästen an, ab und an vielleicht ein wenig später, aber das fällt nicht sehr ins Gewicht und wäre auch nicht namensgebend. Nein, ausschlaggebend ist: Der späte Gast geht spät. Sehr spät. So spät, dass es manchmal fast wieder früh ist.

Nicht diese Art von Fest

Und hier muss man jetzt sehr unterscheiden zwischen den verschiedenen Festarten. Es gibt Feste, die geraten ab Startschuss aus den Fugen, als gäbe es eine geheime Absprache, da isses egal, schon drei Uhr durch, wurscht, einer geht noch, morgen gibt’s eh Kopfweh, mmmhhh Zwetschgenlikör von 2004, undschwolltdirschonimmermalsagnwiearschigdasdamalsvondirwar. Bei solchen Festen ist der späte Gast kein Ding, weil ja alle oder zumindest einige späte Gäste sind, oft auch die Gastgeber, aber von solchen Festen rede ich jetzt nicht.

Der frühe Abflug

Nein, es geht um so ganz normale Feste, die Feier eines unrunden Geburtstags an einem Sonntag, um mal ein Beispiel zu nennen. „Wir machen nix Großes“ lautet der Titel, es gibt was zu essen und zu trinken, und man fängt beizeiten an, um den Gästen die Möglichkeit zu geben, auch beizeiten wieder den Abflug zu machen. Die meisten machen das auch, nach einigen schönen Stunden des Beisammenseins suchen sie ihre Kuchencontainer, Salatschüsseln, Kinder, Hunde und Körbe zusammen, winke winke, tschüssi, schön war’s, bis zum nächsten Mal. Im Auto schalten sie das Radio an, froh, ihre Ruhe zu haben und endlich wieder die Gören auf dem Rücksitz angemessen zusammenstauchen zu können. Entspannung pur.

Noch etwas Cola?

Diese empfinden auch die Gastgeber, sie atmen auf, das Fest ist gelungen und vor allem vorbei, jetzt noch zum Runterfahren die Reste aus den Weinflaschen vor der Glotze schlürfen, dann ins Bett, der Saustall wird morgen früh aufgeräumt. Der Wein steht im Wohnzimmer, die Glotze auch, und auf der Couch sitzt der späte Gast. „Wooaar, du bist ja noch da!“ entfährt es da nicht selten den Gastgebern, und der späte Gast sagt munter „Ja“ und ob noch Cola da sei, er sei ein wenig müde, aber das darf die Gastgeber nicht zu falschen Hoffnungen verleiten. Wenn der späte Gast mal sitzt, dann sitzt er.

Die Latten-Geschichte

Jetzt, wo die anderen weg sind, könne man ja endlich mal in aller Ruhe plaudern, bemerkt der späte Gast zufrieden. Was er nicht bemerkt, ist, dass einer der Gastgeber schon den Schlafanzug an hat und komatös in den Sofakissen hängt. Der andere bemüht sich, den neuen Argumenten zu folgen, die dem späten Gast nun noch zu Gesprächen, die am frühen Nachmittag schon beendet waren, einfallen. Noch ein Schlückchen Cola, und habe ich schon erzählt, wie ich letztens im Baumarkt war und die Dachlatten nicht gefunden habe? Ja, hast du schon, schnorchelt es schläfrig aus der Sofaritze, aber der späte Gast ist verbal schon bei der Baumarkt-Infothek angekommen, wo er nach den Latten fragt.

Putzen und andere subtile Hinweise

Es wird gegähnt, der Tisch halt doch abgeräumt, man ist ja eh wach, Fenster werden geöffnet, Zähne geputzt. Doch zur Welt der subtilen Hinweise fehlt dem späten Gast der Schlüssel. Er sitzt und bleibt. Und bleibt. „Willst du vielleicht hier schlafen?“, mit Betonung auf dem Wort schlafen. „Nein, nein, ich fahre noch, ich trinke ja seit elf nur noch Cola.“ Für wann die Heimfahrt vorgesehen ist, bleibt offen. Die Gastgeber denken darüber nach, sich Augen auf die zu 90 Prozent geschlossenen Lider zu malen, um den Eindruck zu erwecken, sie seien noch wach. Jutta, du hast alles richtig gemacht damals. Ich kaufe mir jetzt Butterbrotpapier und ein Lineal, und dann werden die Einladungen fürs nächste Fest geschrieben.


Die Autorin

Sigrid Sebald (50) ist seit 2000 RHEINPFALZ-Redakteurin in Zweibrücken, wo sie mit Mann und Tochter auch lebt. Über die Beiträge für die „Zweibrücker Rundschau“ hinaus schreibt sie regelmäßig in der RHEINPFALZ-Sommererzählreihe sowie Weihnachtsgeschichten. Die Kolumne Christine Kamm und Sigrid Sebald schreiben abwechselnd in der Online-Kolumne "Ich sehe das ganz anders" über die großen und kleinen Überraschungen sowie Absurditäten des Alltags.

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